Der kleine Stalin: Wolfgang Wötzel, Rechtsanwalt
Kreuzer, Oktober 1999
Die typischen Substantive und Verben des "langweiligen
marxistischen Jargons" hat Wolfgang Wötzel abgelegt, nur noch
das hellblaue Hemd erinnert daran, daß er einmal Leipzigs oberster
Parteimann war. Im Gegensatz zu vielen anderen Genossen, die sich stillschweigend
verkrümelt haben, hat er sein Schuldbekenntnis hinter sich: "In
allen von uns saß ein kleiner Josef Wissarionowitsch (Stalin).
Wir haben Disziplin gehalten", räumte er am 6. Januar 1990
in der taz ein.
Dazu hat Wötzel auch allen Grund: Als letzter SED-Bezirksleiter
schrieb er noch im Oktober '89 einen geharnischten Brief an das Zentralkomitee
der SED in Berlin, worin er die Zulassung des Neuen Forum und anschließend
dessen Unterwanderung forderte. Was unterscheidet die Spitzel-Berichte
der Stasi und die Lageberichte der SED? Nichts, meint Wötzel mit
dem Hinweis auf den bayrischen Ministerpräsident Stoiber, der solche
Bericht genauso schreiben würde. "Als Politiker versucht man
naturgemäß, gewisse Dinge zu oktruieren."
Heute, nachdem Wötzel den kleinen Stalin aus sich rausgelassen
hat, sieht er den größten Fehler der DDR: "Wir hatten
keine sozialistische Opposition." Die Demonstrationen und das Neue
Forum seien "konzeptionell in der Machtauffassung nicht vorgesehen"
gewesen. Also hätte das Volk sich diese Opposition erst erkämpfen
müssen. Uns deshalb ist er auch der festen Überzeugung, daß
die Demonstranten des 9. Oktober 1989 eine "sozialistische Revolution"
machen wollten. Dann aber hätten sich sehr schnell jene angeschlossen,
die nicht so weit dachten. Für Wötzel ist es der "Tag
der Zäsur".
Die Wortwahl zeigt, daß Wötzel die marxistische Argumentation
nicht verlernt hat. Und die von ihm angestellten Berechnungen erinnern
an die Zahlenspiele der Planwirtschaft: Wenn von 70.000 Demonstranten
etwa die Hälfte aus dem Umland angereiste waren, dann hätten
sich am 9. Oktober gerade mal zehn Prozent der Bevölkerung beteiligt.
Damals hielt Wötzel die Demonstranten für Ausreisewillige,
"die mit der DDR nichts am Hut hatten". Dann fällt das
Stichwort: der Plebs.
Von der Teilung der Macht hat Wötzel allerdings bis heute keine
Vorstellung: So relativiert er die Privilegien der Partei mit dem Hinweis,
daß ja wesentlich mehr Pfarrerskinder als Arbeiterkinder in der
DDR studieren durften. Die Kritik am System der von der SED geführten
Auslese läßt er nicht gelten, und kontert stattdessen mit
dem Argument, daß nach 1989 "eine Millionen Menschen aus
dem Staatsapparat rausgeflogen sind". Dann nennt er Beispiele von
Genossen Professoren, die nach 1989 entweder Selbstmord begangen haben
oder verrückt geworden sind.
"Für mich war die Gewaltenteilung nicht so das Problem".
Wötzel ging zur Parteischule und überzeugte sich davon, daß
das Volk ja schon die Macht hatte. Wieso es dann gedrittelt werden sollte,
hätte damals nicht einmal Ulbricht eingeleuchtet. Wötzel interessierte
sich deshalb gar nicht dafür, wie groß der Stasi-Apparat
eigentlich war. Für ihn war nur wichtig, daß das Berichtssystem
von Polizei, Stasi und Kreisleitung ausführlich genug war, um sich
von oben einen Überblick zu verschaffen. Heute hört der geläuterte
Marxist selbst manchmal ein Rauschen in der Telefonleitung und einmal
hat ein Unbekanner in seinem Büro eine Lampe verrückt. "Es
setzt sich doch alles fort", kontert er die Kritik, die Stasi habe
dort angeknüpft, wo die Gestapo aufhörte. In der Bundesrepublik
gebe es heute 10.000 nicht richterlich genehmigte Telefon-Überwachungen.
Das ist für Wötzel Grund genug, um gemeinsam mit der PDS für
die Abschaffung der Geheimdienste zu stimmen.
Für die PDS teilt der 61jährige heute gerne Flugblätter
aus oder stellt auch mal Schilder auf. Über eine Revolution macht
er sich öffentlich keine Gedanken mehr ("aber ich schließe
sie nicht aus"), weist nur darauf hin, "daß die westdeutsche
Bürokratie noch aufgeblähter ist als die der DDR war. Dennoch
hat er sich, nachdem er sich seine Rente "versilbern" ließ,
noch einmal ins Getümmel der Steuerberater, Wirtschaftsprüfer
und Rechtsanwälte gestürzt. Der in DDR studierte Jurist besuchte
einige Lehrgänge in Verwaltungsrecht und eröffnete eine Kanzlei
in Leutzsch, wo er sich auf Baurecht spezialisiert hat. Seine Klientel
sei ganz gemischt, keineswegs nur alte Genossen. "Ich würde
allerdings auch jeden von uns verteidigen."
DANIEL STURM