Figuren der Wende
Kreuzer, Oktober 1999
Von Daniel Sturm
Von Stasi umringt: Zwei Dutzend Stasi-Spitzel
zog Pfarrer Christoph Wonneberger in seinen Bann. Über 3000
Blatt Aktenpapier gibt es über den Mann, der seit 1981 kein Blatt
vor den Mund nahm, eigenhändig Flugblätter gegen den vormundschaftlichen
Staat druckte, und Friedensgebete in Arbeitskreisen vorbereitete, die
zur Hälfte von der Stasti unterwandert waren. Als er 1988 immer
mehr Menschen mobilisierte, die im Staate etwas ändern wollten,
bekam er ausgerechnet von der Kirche einen Maulkorb. Superintendent
Friedrich Magirius entzog "Wonni" die Koordinierung der Friedensgebete.
Offenbar aus Angst vor den Fragen des Staatsappartes, dem Magirius bereitwillig
Auskunft gab: "Wie kann man nur so verstört wie W.... sein?",
protokolliert die Stasi am 27.3.86 ein Gespräch mit Magirius. Zivilcourage
hält Wonneberger für ein hohes Gut, auch wenn es unter Pfarrern
vor '89 nicht gerade verbreitet gewesen sei. Ein Schlaganfall riß
ihn im Oktober '89 jäh aus der Revolution - er konnte nicht mehr
sprechen und wurde in den Ruhestand versetzt. Heute ist Wonneberger,
55, wieder voll hergestellt. Wenn er aber seiner Tochter Marie TV-Werbung
erklären soll, "fühle ich mich fremd im eigenen Land.
Wie ein Hund, der die Witterung verloren hat."
Der Spinner aus dem Westen: Die Klassenkameraden in Bielefeld
schüttelten den Kopf, wenn Roland Schatz seine Sommerferien
wieder einmal "drüben" verbrachte. Schatz' Vater, Chefredakteur
des Westfalen-Blattes, hielt engen Kontakt zu einem Leipziger Arzt,
der ihn im Krieg betreut hatte. Sein Sohn Roland, der in Fribourg/Schweiz
studierte, bereitete der absurden Teilung Deutschlands dann auf seine
Weise ein Ende. Auf der Hannover-Messe 1987 klopfte der damals 22jährige
am Stand von Carl-Zeiss-Jena an und überzeugte einen DDR-Funktionär,
für seine Zeitschrift "Innovatio" zu schreiben. Seiter
gelang es ihm mit Verweis auf ein ominöses Fax aus Ostberlin, unbehelligt
Zeitschriften über die Grenze zu bringen, die er unter den friedlichen
Revolutionären verteilte. Er leistete Aufbauhilfe, zum Beispiel
bei der Der Anderen Zeitung (DAZ), dem Vorgänger des KREUZER, und
gründete 1997 das Leipziger Medien Tenor Institut. "Für
uns als Verlag war die Wende ein Desaster. Kohl holte seine Greise aus
den 50er Jahren und machte Wirtschaftswunder Teil zwei." Wenn am
9. Oktober Schröder aufmarschiert, dann will Schatz weit weg sein.
"Das wäre zu viel für mich."
Kritische Beobachterin: Grit Hartmann hatte ihre Denk-Nische
in der DDR, schrieb Essays für das Börsenblatt des Deutschen
Buchhandels, darunter Texte über Monika Maron und Adolf Muschg.
In der Wendezeit arbeitete sie atemlos für den Forum-Verlag, interviewte
drei der Leipziger Sechs (Bernd Lutz-Lange, Kurt Meyer, und Kurt Masur),
bevor sie eineinhalb Jahre das Leben auf Santurin in Griechenland ausprobierte.
Nach zehn Jahren denkt sie zum ersten Mal wieder intensiv an 1989 zurück:
"Warum sind Leute, die seit den 80ern an der Revolution arbeiteten,
aus dem Gedächntnis verschwunden?" Für das Archiv der
Initiative Friedens- und Menschenrechte, das die Dissidenten Rainer
Müller und Thomas Rudolph auf den Weg brachten, interessierten
sich heute nur ausländische Besucher. Die wirklichen Helden würden
deshalb nicht wahrgenommen, weil sie sich knallhart kritisch mit der
DDR befaßten. "Stattdessen werden heute wieder die alten
Wendehelden nach Sendeschluß wie Wötzel oder Krenz ins Rampenlicht
gerückt." Seit 1993 arbeitet Grit Hartmann als freie Journalistin
für den MDR. 1997 analysierte sie im Buch "Goldkinder"
das Verhältnis der DDR zu ihren Leistungssportlern.
Der übergelaufene Zensor: Arnulf Eichhorn hat gut lachen,
schließlich scheint es ihm niemand übel zu nehmen, daß
er heute die Leipziger Lachmesse koordiniert, wo er doch zu DDR-Zeiten
für die Zensur der Leipziger Kabaretts zuständig war. Es ist
wie Lektion eins, DDR: Die Träger des Systems haben im Nachhinein
immer alle das Beste gewollt, "einen reformierten Sozialismus".
Seinem Job als Zensor versucht Eichhorn im Nachhinein noch etwas abzugewinnen:
er habe die Kabarettisten vor noch böseren Zensoren "aus Berlin"
schützen können, schließlich sei nicht erst seit 1979,
als sich die Akademixer über die Subventionswirtschaft lustig machten,
bekannt, daß Honecker und Co. keinen Spaß verstünden.
Die Partei schützt sich vor sich selbst. Menschen, die zu DDR-Zeiten
im Gefängnis saßen, nie studieren und nicht an den Westreisen
der Kabarettisten teilnehmen durften, bekommen heute von Arnulf Eichhorn
den naiven Satz zu hören: "Wir haben uns von den sogenannten
Dissidenten nur darin unterschieden, daß wir es weiter bis zum
bitteren Ende versucht haben." Lektion zwei: Die Träger des
alten Systems einigen sich auf den volkstümlichen Sachsen - und
haben so auch die schenkelklopfenden Träger des neuen Systems auf
ihrer Seite.
Abt im Roten Kloster: Als die SED am 20. September 1954 die erste
deutsche Fakultät für Journalistik gründete, war das
Schicksal der freien Presse begraben: Das sogenannte "Rote Kloster"
diente einzig der Ausbildung von Parteifunktionären auf Journalistenposten.
Als Professor Günter Raue im Spätherbst '89 den weitgehend
unbekannten, alten Sektionsdirektor ablöste, wollte er die Sektion
als Ausbildungseinrichtung für linke Journalisten etablieren: "Wir
werden nie auf dem rechten Spektrum zu finden sein." Gott behüte,
darf man heute sagen, denn von den "linken" Lehrern, wie sie
die SED-Parteidisziplin jahrzehntelang produziert hatte, war diesbezüglich
nicht mehr viel zu erwarten. "An allem ist zu zweifeln" -
der berühmte Karl-Marx-Satz, den im Westen selbst Volontäre
beim Bayrischen Rundfunk zu beherzigen suchten, wurde in der Sektion
umgangen. Einzig Hartnäckigkeit lobt Raue heute "als die größte
Journalisten-Tugend" recht kurzangebundenen, um sie sogleich dialektisch
für eine Interviewabsage zu benutzen ("Sie können noch
so hartnäckig sein, ich mache nicht mit"). Der 60jährige,
der ein knappes Jahr später von seinem Posten abgewählt wurde,
hat die Geschichte des Journalismus in der DDR 1945-1961 verfaßt.
Kontinuität in Person: Bernd Radestock ist Verlagschef
der Leipziger Volkszeitung und war dies auch vor 1989. Obwohl sich viel
geändert hat - so mußte er früher nur Stühle anschaffen,
heute geht es um Tarife und Geschäftsreisen - blieb doch eines
gleich. "Ich lese die Zeitung auch nicht mehr als früher."
Das Bekenntnis ehrt, zeigt es doch a) daß Radestock heute wie
ein guter Manager kaum Zeit hat, sich mit dem Produkt zu beschäftigen
und b) daß er das Klassenkampf-Gerede der alten LVZ schon damals
durchschaut hat. Als aber am 6. Oktober 1989 ein Aufruf in seiner Zeitung
stand, den Demonstranten "wenn es sein muß, mit der Waffe
in der Hand" zu begegnen, las selbst Radestock sein Blatt: "Das
war doch ziemlich deutlich." Am 7. Oktober bekam er einen Anruf:
"Wenn so etwas noch einmal in der LVZ steht, dann werdet ihr abgeknallt",
habe der Leser sinngemäß gedroht. Heute sind Drohanrufe Fehlanzeige,
allenfalls Abbestellungen schmerzen den Verlagschef. Wenn jedoch allzu
kritische Töne über die regionale Wirtschaft in der seiner
Zeitung anklingen, dann geht Radestock "gerne mal in die Redaktion".
Schwer vorstellbar, daß der gemütsruhige Mitfünfziger
wie ein Wessieverleger wutschnaubend durch die Redaktionsräume
fegt.
Psychogramm eines IM: Wer mehr über die flächendeckende
Unterwanderung der DDR-Gesellschaft mit Stasi erfahren will, kann darüber
mit Bernd Weinkauf sprechen. Der ehemalige Stadtrat für
Kultur und Bildung, der am 22. Mai 1991 vom Stadtparlament wegen "jahrelanger
wissentlicher Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst"
seines Amtes enthoben wurde, ist ein geradezu mustergültiger Fall.
Wie heute überall nachzulesen ist, fingierte die Stasi gerne kleine
Straftatbestände, um die jeweiligen "Verbrecher" zu erpressen
und für ihren Dienst anzuwerben. So auch im Fall Weinkauf, der
von 1974 bis Dezember 1989 als IM "Walther" in die Annalen
der Stasi eingegangen ist. Eines Tages, erzählt er, habe sein Auto
ein anderes Nummernschild gehabt. Bald darauf warfen ihm die Sicherheitsorgane
Beihilfe zur Flucht vor und Weinkauf, dessen Freund deshalb "ein
Jahr im Gefängnis saß", willigte ein. Der Literat gab
Auskünfte über drei Autoren, traf sich mit dem Stasi-Kontaktmann
in Wohnungen, Plätzen und in Cafés. Weinkauf spielt seine
Tätigkeit für die Stasi extrem herunter, gefällt sich
sogar ein wenig in der Prominenz seiner Spitzelei ("sie hätten
mich wohl auf Erich Loest angesetzt") - auch das Teil seines Psychogramms.
Heute arbeitet der 56jährige als freier Autor für die Leipziger
Blätter und sieht in seinem neuesten Buch "Leipzig mit Goethes
Augen".