Big Brother is Watching You
Kreuzer, März 2000
Als erste deutsche Stadt führte Leipzig
1996 Videokameras zur Überwachung ein. Stolz präsentiert die
Polizei seither ihre Erfolge rund um den Bahnhofsvorplatz, der von Drogendealern
und Hütchenspielern weitgehend befreit ist. Doch seit die Stadt
nun auch die Szene am Connewitzer Kreuz ins Visier nehmen läßt,
rappelt es im Karton. Manche fühlen sich an Stasi-Zeiten erinnert,
andere demonstrieren wütend und Bürgerrechtler fragen kritisch:
Wer überwacht eigentlich die Überwacher? Eine Reportage von
Daniel Sturm (Text) und Cordula Giese (Bilder).
In Schillers "Wilhelm Tell" ist es ein
Hut, vor dem sich die Bürger zu verneigen haben. Der Hut des Reichsvogtes
Geßler sitzt auf einem Stock und verheißt den zur Anpassung
bereiten Recht und Ordnung. Die Unbotmäßigen, die den Kniefall
vor dem Machtsymbol verweigern, müssen mit Verfolgung rechnen.
Nicht mehr von einem Stock, sondern von der Spitze eines Hochhausdaches
aus nehmen nun am Connewitzer Kreuz Geßlers Erben ihre Bürger
ins Visier: eine Videokamera haben der Freistaat Sachsen und die Stadt
Leipzig dort zum Schutze von Recht und Ordnung angebracht. Wie im "Tell"
schwelt ein Konflikt, der ganz eng mit dem persönlichen Freiheitsbegriff
zusammenhängt. "Wer nichts zu verbergen hat, den stört
die Kamera auch nicht", sagen die Befürworter der Kamera.
Die anderen schütteln empört den Kopf. Sie fühlen sich
bei diesen Worten mit Grauen an die falsche Väterlichkeit des Stasichefs
Erich Mielke erinnert, der noch 1989 vor der DDR-Volkskammer ausrief:
"Ich liebe Euch doch alle".
Erfahrung mit Überwachung hat Arne Maiwald, 27, von Kindesbeinen
an gesammelt: er war ein Baby von 12 Monaten, als die Stasi ihm eine
eigene Akte widmete. Arne ist zum Studieren nach Leipzig gekommen. Philosophie.
Heute geht er täglich demonstrieren und wundert sich darüber,
wo der viel gerühmte Revolutionsgeist der Stadt geblieben ist.
"Bitte Lächeln" steht hintersinnig auf seinem Schild,
soll heißen: "Ich muß Angst haben, dass mir jemand
mein Gesicht übel nimmt."
Offenbar wollten die politisch Verantwortlichen mit der Kamera high
tech suggerieren, tatsächlich aber gehe die Polizei wie gewöhnlich
nach mittelalterlichen Methoden vor. Ein Graffiti-Sprayer wanderte für
eine Nacht ins Gefängnis, einem von Arnes Bekannten brummten sie
200 DM Strafgeld auf, weil er seinen Hund nicht an die Leine nahm. Bagatelldelikte,
die so von der am Connewitzer Kreuz operierenden Hundertschaft unsäglich
aufgebauscht würden. Im Endeffekt erreiche die Stadt, so Maiwald
nachdenklich, nichts. Nur die altbekannten Zaungäste habe man wieder
aus der Reserve gelockt, die am Rande der Demonstration "Schlagt
mit dem Knüppel rein" riefen.
Was die Ordnungshüter am Connewitzer Kreuz erreichen wollen, ist
nicht ganz schlüssig. Denn gesetzlich erlaubt ist Videoüberwachung
nur an Plätzen, die im Polizeijargon "Kriminalitätsschwerpunkt"
heißen. Wenn an einem Ort besonders oft geklaut, gedealt oder
gemordet wird, dann handelt es sich definitionsgemäß um einen
solchen. Der Bahnhofsvorplatz, in dessen Umgebung noch im März
vor drei Jahren 70 Autoknacker ertappt wurden, erfüllte diese Vorbedingung.
Nach der Installation einer Videokamera auf dem Hochhausdach der Richard-Wagner-Straße
12 wurden dort nur noch 32 Autoknacker aufgegriffen.
Deutlich schwieriger ist die Lage am Connewitzer Kreuz, sind es doch
nur zwei Ereignisse im Zeitraum von zwei Jahren, auf die sich die Polizei
bezieht. Krawalle an Silvester 1998/99 und am 31. Oktober 1999.
Noch vor Weihnachten wurde gut sichtbar eine riesiges Videostativ auf
dem Dach der Karl-Liebknecht-Straße 152 montiert. Es hagelte Protestnoten
an Ordnungsamtschef Günther Wassermann. Der räumte ein, dass
man der mutmaßlichen Täter auch mit der Kamera kaum habhaft
werden könne. Er versprach, künftig für mehr Sicherheit
im Stadtteil zu sorgen, etwa durch Streetworker, und die Videoüberwachung
im neuen Jahr einzustellen.
Stattdessen wurde die Kamera im Januar offiziell von Probe- auf Dauerbetrieb
geschaltet. Im Widerspruch dazu steht, was Oberbürgermeister Wolfgang
Tiefensee jetzt dem KREUZER sagte: "Die Krawalle in Connewitz werden
nicht von der Szene gespeist. Wer das behauptet, würde die Szene
stigmatisieren."
"Wozu dann Videoüberwachung?", fragen sich einige Anwohner
des Connewitzer Kreuzes zurecht. Es dränge sich der Verdacht auf,
dass die angeblichen Krawallmacher nur vorgeschoben werden, um das Spielzeug
Videoüberwachung erneut einzusetzen. Connewitz sei überhaupt
kein Brennpunkt der Gewalt. Die Kriminalitätsrate gehe in Leipzig
seit Jahren zurück, und wenn mit der Kamera ein Effekt erreicht
werde, dann nur die Verlagerung auf andere Stadtviertel.
"Die Polizei konstruiert sich einen Drogenumschlagplatz, da reicht
schon der ägyptische Gemüsestand am Kreuz", meint Arne
Maiwald. Leipzigs Videoüberwachung - vorbildlich für ganz
Deutschland? Nein, vorbildlich ist für ihn vielmehr ein Gemeinwesen,
in dem zur Ursachenbekämpfung Sozialarbeiter auf die Straße
geschickt werden.
Doch Videoüberwachung ist nicht Ursachen-, sondern Verbrechens-bekämpfung.
Gern schmückt sich OBM Tiefensee mit der Vorreiterrolle Leipzig
auf diesem Gebiet, und teilt ein dickes Lob an den Freistaat Sachsen
als wichtigen Partner aus. Leitender Verbrechensbekämpfer in Leipzig
ist Michael Grottke. Der Kriminalrat bei der Polizeidirektion schildert
den Weg zur Videoüberwachung auch als einen Ausweg aus der Personalkrise.
Aufgrund der Kriminalitätsentwicklung in der City waren 1996 täglich
bis zu 100 Beamte zusätzlich im Einsatz. Die Einsatzgruppe Innenstadt
ächzte unter der Arbeitslast. Ein Drittel aller Straftaten geschehen
hier.
Da kam das Pilotprojekt Videoüberwachung, mit dem das sächsische
Innenministerium experimentierte, wie gerufen. Erstmals in einer deutschen
Stadt durfte der öffentliche Raum überwacht werden, rund um
die Uhr. Nach verschiedenen Versuchsphasen, in denen die Verbrechensentwicklung
bei an- und ausgeschalteter Kamera beobachtet wurde, wurde die Installation
am Bahnhofsvorplatz zur Dauermaßnahme. Die präventive Wirkung
und Abschreckung sei der eigentliche Erfolg des Projekts, sagt Grottke.
Im Vergleich zu überwachungsfreien Zeiten habe man Rückgänge
der Straßenkriminalität von bis zu 40 Prozent verzeichnet
(siehe Kasten mit Statistik). Um dem Datenschutz genüge zu tun,
wurden gut sichtbar Schilder aufgestellt: "This place is supervised
by video. Call 966 22 02."
"Wenn man sich von Kameras überwacht fühlt", bemerkt
der Philosoph Paul Virilio in der Zeitung Le Monde diplomatique "wird
man, auch wenn niemand am Videopult sitzt, in seinem Verhalten konditioniert,
so daß man es mit einer Art Befehl zu tun hat. Videoüberwachung
ist Befehlsgewalt über Verhaltensweisen. Sie schreckt Straftäter
ab, verändert gleichzeitig aber auch die Verhaltensweisen aller
Menschen."
Wichtig ist, daß der Videoüberwachte weiß, daß
er überwacht wird. Erst dieses Wissen bringt die Disziplinarbeziehung
hervor und veranlaßt den einzelnen, sich so zu verhalten, wie
man es von ihm erwartet. Die Wirksamkeit der Videoüberwachung ergibt
sich aus der Beziehung "gesehen zu werden, ohne je selbst zu sehen".
Virilio hat Carl Jesche vom Neuen Forum nicht gelesen. Aber auch er
glaubt, dass es sich bei der Videoüberwachung nur um eine besonders
perfide Form staatlicher Disziplinierung handelt. Mit einer Plakataktion
hat er im Dezember auf die neue Qualität der Überwachung hingewiesen.
"Haben Sie gerade Ihre Hand im Schritt" oder: "Woher,
wohin? Einer sieht es. Dieser Platz wird videoüberwacht",
steht auf den Plakaten. Er versteht nicht, wie sich ausgerechnet in
der ehemaligen DDR Methoden alltäglicher Überwachung wieder
etablieren können, wo man doch die Stasi mit so viel Lust losgeworden
sei. Urplötzlich fand sich Jesche selbst in den dynamischen Prozeß
der Überwachung verwickelt: "Ich muss nun jeden Tag meine
Plakate überwachen, eines haben sie mir schon geklaut".
Ein Plakat kostet das Neue Forum, das seit Jahren vor der finanziellen
und politischen Pleite steht, 1,16 DM pro Tag, die an die Deutsche Städtereklame
zu entrichten sind. Besonders merkwürdig findet Jesche, dass ihn
nach der Aktion ein Polizist angesprochen habe: "Durch die Kamera
sieht man ohnehin nichts genaues, aber sie erleichtert unsere Arbeit
sehr." Jesche schüttelt den Kopf und meint fast ein wenig
enttäuscht: "Paradox. Es wird also nur etwas vorgetäuscht".
Im Überwachungsraum bestätigt Revierführer Reiner Seydlitz:
"Gesichter kann man im Detail nicht genau erkennen". Nachts
schon gar nicht. Die 50.000-DM-teure Anschaffung sei vergleichsweise
billig und weit weniger zur Überwachung geeignet als Infrarotkameras,
die bei Banken und Privatiers im Einsatz seien. Der Leiter des Polizeireviers
Mitte in der Ritterstraße ist auf die üblichen Vorurteile
("Big brother is watching you") gut vorbereitet, und spielt
deshalb die Sehfähigkeit des elektronischen Auges herunter. Außerdem
gelte das sogenannte Vieraugen-Prinzip, das heißt eine weibliche
Beamtin könne nicht einfach "einen schönen Mann finden"
heranzoomen, ohne dies vorher mit ihrem Kollegen abzustimmen. Zoomen
und Aufzeichnen von Personen sind laut Polizeigesetz nur erlaubt, wenn
"Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten begehen"
- ein gefährlicher Gummiparagraph, wie Gegner der Videoüberwachung
monieren. Seydlitz untertreibt und man gewinnt fast den Eindruck, er
halte Videoüberwachung für ein zur Verbrechensbekämpfung
untaugliches Mittel. Doch Leipzig ist Modellstadt in Sachen Videoüberwachung,
und so kann Seydlitz solz von den vielen Besuchern aus Baden-Württemberg,
Hessen, Hamburg, Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt erzählen,
die seit Monaten nach Leipzig pilgern. Motto der Bildungsreise: Videoüberwachung.
Von Polizei-Pilgerfahrten hält Johannes Abdelrazek vom Feinkostladen
"Kreuzfahrt" wenig. Ein teures Spielzeug sei diese Videoüberwachung,
meint er. Der entstandene Schaden wegen kaputter Fensterscheiben in
Höhe von 50.000 DM rechtfertige keineswegs die Installation eines
ebenso teuren, aber untauglichen Mittels. "Denn von wem kommt dieses
Geld für die Kamera, doch von uns Steuerzahlern", sagt der
aufgebrachte Abdelrazek. Oft schon habe er versucht, mit einem der hundert
Polizisten, die am Kreuz permanent Streife schieben, ins Gespräch
zu kommen. Doch die zuckten mit den Achseln und beriefen sich stoisch
auf ihr Dienst-ist-Dienst-Prinzip. "Die haben Streß ohne
Grund". Abdelrazek läßt kein gutes Haar an den Polizeimethoden
seines Heimatlandes Ägypten, aber genauso wenig versteht er, was
sich hierzulande abspielt. Eine verkehrte Welt, meint er: "Die
Polizei sitzt rauchend vor der Kamera und wartet auf den Dieb."
Nach zwei Stunden müssen die Beamten im Überwachungsraum ausgewechselt
werden. "Sonst kriegen sie viereckige Augen", berichtet der
Sächsische Datenschutzbeauftragte Thomas Giesen (siehe Interview).
Im Idealfall behält ein Polizist immer den Monitor im Blick; mit
einem Steuerknüppel kann er 18 Positionen bestimmen, die den Bahnhofsvorplatz
von der Fußgängerbrücke am Goerdeler-Ring bis zum Willy-Brandt-Platz
unterteilen. Seine Beobachtungen teilt er dem sogenannten "Funktischbeamten"
mit, der bei Verdacht einer Straftat die Streifenpolizisten anfunkt,
und wie bei einer Verfolgungsjagd auf die Fersen des Täters ansetzt.
Auf diese Weise wurden von Januar 97 bis Dezember 1998 in elf Fällen
Tatverdächtige beobachtet, identifiziert und gestellt. Eine bescheidene
Ausbeute.
Wie aber unterscheidet sich ein Autoeinbrecher von einem, der sein Auto
legal aufschließt? "Dieses Beispiel ist sicher ein wenig
kritisch", räumt Kriminalrat Grottke ein. Da müsse man
eben auf die Erfahrung der Streifenpolizisten bauen, die das Videobild
in die Gesamtbewertung einfließen ließen. Kritische Töne
schlägt Grottke auch an, was die Rauschgiftbekämpfung angeht.
Die bisherigen Ergebnisse zeigten, dass man mit Videoüberwachung
und verstärktem Personaleinsatz höchstens eine Verlagerung
der Szene erreichen könne. Da seien die Grenzen der Videoüberwachung
erreicht. Grottke: "Einem Dealer genügt es ja bereits, wenn
er sich hinter einer Straßenbahn versteckt, da kommt die Kamera
nicht hin."
Die Unzulänglichkeit der Technik, diese Argumentation nimmt Arne
Maiwald der Polizei vielleicht noch ab. Genauso wenig wie viele andere
glaubt er indes, dass es sich lediglich um eine harmlose Erweiterung
des polizeilichen Repertoires handelt. Ganz private Begebenheiten könnten
auf Film gebannt werden, und sei es nur, weil sich der Beamte am Monitor
langweile oder über die unzulängliche Technik ärgere.
Grund genug für den jungen Philosophen, der sich früher im
Dresdner Verein "Weiterdenken" engagiert hat, scharf nach
der politischen Verantwortlichkeit zu fragen. "So gesehen müßten
in einigen Rathausbüros Videokameras plaziert werden, zur Sicherheit
der Bürger. Aber wer überwacht die Überwacher?"
Heike Werner würde das gerne tun, schließlich sitzt sie für
die PDS-Opposition im Sächsischen Landtag. "Die wollen alle
nur den starken Mann markieren", kommentiert die 31jährige
das Vorpreschen ihres Bundeslandes in Sachen Videoüberwachung.
Sicherlich habe ein gewisser Anteil der Bevölkerung Angst vor Kriminalität.
Aber diese Angst lasse sich politisch ähnlich schüren wie
die Fremdenfeindlichkeit "und schon halten die Leute das Connewitzer
Kreuz für einen Kriminalitätsschwerpunkt". Statt mit
den unbewußten Ängsten der Bevölkerung zu spielen, sollten
Politiker besser "Toleranz für andere Lebensentwürfe"
schaffen. Heike Werner findet es bezeichnend, dass jetzt ausgerechnet
am Connewitzer Kreuz, wo junge Szene und alte Leute eigentlich recht
normal zusammenlebten, dieser Griff in die politische Trickkiste stattfinde.
Doch nicht einmal in der eigenen Partei findet sie genügend Mitstreiter
für das Thema. "Bürgerrechte gehen in der PDS ein wenig
unter, weil eben Soziale Gerechtigkeit das Topthema ist." Das könnte
sich bald schon ändern: Im Frühjahr eröffnet die PDS
ein Büro in der Bornaischen Straße 3a, das von der Videokamera
am Kreuz erfaßt wird.
"Ist es nicht paradox, dass ausgerechnet die PDS die bürgerlichen
Rechte hochhält?", fragt Klaus Schulze. Der 25jährige
ging eine Woche lang am Kreuz demonstrieren, zusammen mit täglich
200 Gegnern der Videoüberwachung. "Lauschangriff, Asylrecht,
jetzt die Videokamera, und wo sind die Grünen? Es gibt Leute, die
nehmen ohne mit der Wimper zu zucken alles hin, wogegen sie eigentlich
sind. Das ist ein Verfall in alte Zeiten, ziemlich ostmäßig."
Zehn Jahre nach der Wende zuckten alle anderen Parteien mit den Achseln,
obwohl sie noch 1989 lautstark die Abschaffung des Überwacherstaates
gefordert hätten. Im Rathaus regiere eine Allparteienfraktion,
wie damals. Und die Leipziger Volkszeitung, einst willenloses Bezirksorgan
der Partei, schwenke wie früher auf den Rathauskurs ein, "weil
sie sich das als Monopolzeitung leisten kann". Die LVZ betone gebetsmühlenhaft
die Vorreiterrolle Leipzigs in Sachen Videoüberwachung und spiele
damit die gesellschaftliche Tragweite extrem herunter. Doch Schulze
ficht energisch gegen das Vorurteil vom "Krawallviertel" Connewitz:
hier herrsche ein ausgezeichnetes Lebensgefühl und da sei es um
so widersprüchlicher, "dass ich mich hier nachts wie in Belfast
fühle. Die Polizei schleicht an jeder Ecke im Schrittempo umher
und macht absurde Kontrollen."
Großbritannien gilt als Mekka der Videoüberwachung. Die Verwaltung
des Londoner Stadtteils Newsham erhielt im Herbst 1998 den erstmals
vergebenen "Big Brother Award". Die Plastik, ein Stiefel auf
einem menschlichen Kopf, wurde für den Einsatz von 140 digitalen
Straßenkameras verliehen. Diese sollen automatisch vermeintliche
Kriminelle aus der Menge fischen. Das geht über einen sogenannten
"biometrischen Abgleich", das heißt das elektronische
Kamera wird mit einem Fahndungsfoto gefüttert und sucht nach dem
richtigen Gesicht. Die Installation eines Überwachungssystems mit
18 Kameras in Vororten des englischen Bradford kostet die Kommune etwa
1,5 Millionen Pfund. Auch privat haben sich viele kleine "big brothers"
aufgerüstet, sei es am heimatlichen Maschendrahtzaun oder vor der
Villa des Immobilienmaklers.
Der Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen vermeldet
einen Boom beim Verkauf von Sicherheitstechnik und ist ganz offiziell
eine Kooperationsgemeinschaft mit der Polizei eingegangen. In Deutschland
gibt es nach Auskunft der Bundesgemeinschaft kritischer Polizistinnen
und Polizisten derzeit rund 400.000 Überwachungskameras. Mehr als
die Hälfte aller 16.600 deutschen Tankstellen sind mit Videoanlagen
ausgestattet. Im Leipziger Hauptbahnhof schauen rund 150 Kameras den
Reisenden zu. Sie hängen ferner in Kaufhäusern, Supermärkten,
Fabriken Flughäfen, Banken und Sparkassen, Spielcasinos etc. und
sollen dort die eigene Sicherheit erhöhen und/oder andere Personengruppen
kontrollieren.
Auch Sören Reh vom Reisebüro "Reisekontor" am Connewitzer
Kreuz verfolgt den Einsatz von Videoüberwachung mit zunehmender
Skepsis. Nachdem ihm im Oktober 1999 ein paar Vermummte die Fensterscheibe
eingeworfen hatten, ließ sich Reh auf das Projekt Videoüberwachung
notgedrungen ein. Doch mittlerweile mißfällt ihm die Entwicklung,
die er sich nur mit der "Unverhältnismäßigkeit
der Mittel" erklären kann. Angesichts einer Hundertschaft
von Polizisten, die am Kreuz tagtäglich im Einsatz sei, fragt er
sich, "ob wir die Kamera überhaupt noch brauchen". Schließlich
gewinnt seine Skepsis die Oberhand. "Wir haben eine Vergangenheit,
die hinsichtlich der Überwachung einzigartig ist". Und so
genügt weder ihm noch seinen beiden Kolleginnen, die am Kreuz wohnen,
der Hinweis auf das angeblich gestiegene Sicherheitsbedürfnis:
"Wir haben hier noch nie Angst gehabt".
Arne Maiwald ist viel herumgekommen in den letzten Jahren. Marokko,
Osteuropa oder Finnland, er hat sich nirgendwo unsicher gefühlt.
"Seit der Antike instrumentalisieren Vertreter des Staaten das
Sicherheitsbedürfnis der Menschen, um sich selbst an der Macht
zu halten." Auch in Leipzig spürt er keine Angst, "solange
ich nicht irgendwelchen Sanktionen seitens der Bevölkerung ausgesetzt
werde". Die Verneigung vor dem Hute Geßlers kann er sich
nicht erklären und auch nicht, warum nicht noch mehr Leipziger
offen auf der Straße protestierten. "Vielleicht kriege ich
es ja in meinem Studium heraus, woher dieses prähistorische In-seiner-Höhle-sitzen
kommt".
DANIEL STURM