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Maulkorb beim Tourismusfrühstück
Kreuzer, Dezember 1999

Beim Tourismusfrühstück geht es heiß her: Der Leipzig Tourist Service stellt Brötchen und hochrangige Podiumsgäste. Nur die Stadt sendet ihre zweite Garnitur.

Von Daniel Sturm

An jedem letzten Mittwoch im Monat zeigt Leipzig, daß es immer noch die Stadt der friedlichen Revolution ist. Dann füllt sich die große Ratstonne der Moritzbastei mit Menschen, denen wie an den runden Tischen von '89 das Schicksal der Stadt am Herzen liegt. "Tourismusfrühstück" heißt diese öffentliche Veranstaltung, bei der sich ein kunterbuntes Völkchen auf hohem Niveau über Fragen der Stadtentwicklung zofft. Das Podium ist die Erfindung des Schweizers Richard Schrumpf, Geschäftsführer des Leipzig Tourist Service (LTS), dessen freier Geist so manchem ein Dorn im Auge ist.

Die offene Form der Talkshow jedenfalls ist den hochrangigen Vertretern der Stadt offenbar zu riskant, sonst würden sie nicht so häufig mit Abwesenheit glänzen oder nur ihre zweite Garnitur entsenden. Nicht selten werden die rund 150 Besucher aus Hotellerie, Gastronomie, Kultureinrichtungen, Medien und privatem Interesse Zeugen einer Realsatire: "Das ist nicht mein Ressort, ich bin da nicht kompetent, darauf kann ich nur ausweichend antworten", bekommen sie von den Repräsentanten der Verwaltung zu hören und reiben sich die Augen. Anne Loch, die mehrmals ein LTS-Frühstück moderierte, hat diesen gestammelten Schwachsinn notiert und im Namen der verärgerten Besucher einen Brief an Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee formuliert. "Obwohl Einladungen zur Teilnahme im Gesprächsforum langfristig erfolgen, müssen kommunalpolitische Gesprächspartner trotz Zusage häufig noch am Vortag absagen und sehen sich leider außerstande, einen ebenfalls aussagefähigen Vertreter zu benennen."

Die Antwort delegierte Tiefensee an seinen Beigeordneten für Kultur, Dr. Georg Girardet: "Sehr geehrte Frau Loch", hebt der Brief an, "Ihre Kritik an der städtischen Präsenz kann ich nicht teilen" geht es weiter und schließt mit der fast drohenden Aussage, daß die Stadt in regelmäßigen Gesprächen mit dem beauftragten LTS "über den Sinn und Zweck dieser Veranstaltung und die sinnvolle Auswahl der Moderatoren" debattieren würde. Der lapidare Tonfall des Briefes, der das Gesprächsforum zu einer Ansammlung von Schießbudenfiguren abqualifiziert, erntete spontan Buhrufe, als Moderatorin Anne Loch ihn beim darauffolgenden Tourismusfrühstück verlas.

"So etwas würde in der Schweiz nie passieren", kommentiert Richard Schrumpf, der über so viel Ignoranz seitens der Stadt gekränkt ist. Am meisten ärgert den Mann, der seit 1996 eine offene Debatte über die Kulturfinanzen fordert, daß sich Girardet so mißtrauisch gebärde, was die Koordinierung der Kultveranstaltung angeht. Dabei sei das Podium mit schlappen 2000 DM pro Veranstaltung vergleichsweise billig. Warum viele Amtsleiter vor der Ratstonne wie vor einer Höhle des Löwen kuschen, läßt Schrumpf nur off the record durchblicken, schließlich hat er einen Vertrag bei der Stadt. "Aber wenn ich auf die Zusage von Amtsleitern warten würde, müßte ich drei Monate warten."

Anne Loch vermutet ein "Maulkorbmodell". Im Vorfeld der Oberbürgermeisterwahl von 1998 hätten noch alle Kandidaten salbungsvoll von Visionen gesprochen, doch heute scheuten sich Amtsvertreter vor Antworten, weil sie zu wenig eigenverantwortlich arbeiteten. Briefe müßten in der Stadt mehrfach abgesegnet werden, glaubt Loch, die selbst von 1990 bis 1994 als Theaterreferentin und danach als Geschäftsführerin des Leipziger Kabaretts Pfeffermühle beschäftigt war. Daß jetzt der Wirtschaftsdezernent nicht an einem Podium zum Thema Wirtschaft teilnehme und seine Vertretung "Das weiß ich auch nicht" stammeln lasse, hätten die Besucher des ansonsten hochkarätig besetzten Podiums nicht verdient.

Für große Heiterkeit sorgt in der Veranstaltungsreihe immer die Frage, ob auch Vertreter der Stadt unter den Zuhörern sind. Dann hebt meist ein halbes Dutzend Menschen die Hand und outet sich als eine vom Amtsleiter entsandte Delegation, die mit dem Ohr ganz nah am Volk sein will. Unweigerlich entsteht dann der Eindruck, die öffentliche Verwaltung nutze das Tourismusfrühstück als reine Weiterbildungsakademie. Mag das Niveau der Veranstaltungen manchem Sachbearbeiter über den Kopf gewachsen sein, so müßte zumindest ein Amtsleiter mithalten können, wenn Leipzig in der Ratstonne über "Marketingstrategien" (28.1.98), "Gemeindegebietsreform" (25.11.98) oder "Kulturvisionen bis 2005" (30.9.99) debattiert.

Richard Schrumpf, der das Tourismusfrühstück im April 1996 mit dem Thema "Wo drückt der Schuh" aus der Traufe gehoben hat, glaubt die Zeichen der Zeit verstanden zu haben. Wenn die Verwaltung am Ende des alten Jahrtausends nurmehr faseln kann, müssen andere Leute ran. Im Jahr 2000 sollen verschiedenste Initiativgruppen ihr eigenes Tourismusfrühstück auf die Beine stellen dürfen, das künftig "Standort-Forum" heißen wird. Der LTS stellt dann nur noch die Brötchen und bedarfsweise auch Moderatoren. Den Namen "Tourismusfrühstück" hat sich der kluge Schweizer vorsorglich rechtlich schützen lassen.