Daniel Sturm
Journalism & Research


         

Politics

War & Sept. 11

Arts & Entertainment

Environment & Technology

Racism

General Interest

 

Order Book Online Amazon.de

 

 

 

 

Order Book Online Amazon.de

 

Interview mit Wolfgang Tiefensee, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
Kreuzer, November 1999

KREUZER: Herr Tiefensee, im selben Maße, in dem Ihre Partei bei den Kommunalwahlen in Leipzig eingebrochen ist, wächst Ihnen eine Rolle als Hoffnungsträger der Ost-SPD zu. Haben Sie diese Entwicklung so kommen sehen?
Tiefensee: Ich bin von den Einbrüchen nicht überrascht, was den prozentualen Rückgang angeht schon. Und was meine Person angeht, bin ich auch etwas überrascht.
KREUZER: Fühlen Sie sich geschmeichelt, wenn Ihnen die taz attestiert, "Schröders Liebling" zu sein?
Tiefensee: Der Artikel geht mit Vokabeln um, die nicht stimmen. Ich habe nie gesagt, daß ich die Politik Schröders im Kleinen hier vollziehe. Aber es tut schon gut und es tut auch der Stadt Leipzig gut. Daß die Resonanz auf die Stadt durch meine Person größer geworden ist, ist unbestritten. Das beginnt bei der Frage, wo man über den Wahlabend in Sachsen berichtet, wenn nicht in Dresden. Gerade ist der Vertreter der Süddeutschen Zeitung hiergewesen, die Korrespondenten von taz, Focus und Spiegel waren auch da.
KREUZER: Würden Sie denn gerne einer von Schröders Stellvertretern sein?
Tiefensee: Nein, es gibt sechs Stellvertreter und ich denke der Osten ist gut vertreten.
KREUZER: Sie sind 1995 in die SPD eingetreten, weil sie glaubten, dort am besten "mit Augenmaß für wirtschaftliche und soziale Belange" eintreten zu können. Müssen Sie sich nicht darauf einrichten, daß die Sachsen weiter wirtschaftlich mit CDU und sozial mit PDS verbinden?
Tiefensee: Genau, das ist eine der Kernfragen, daß sich offensichtlich in der Sicht der Wähler diese beiden Fragen auf die Parteien CDU und PDS zuspitzen. Durch eine Bewegung der SPD in die Mitte wird am linken Rand etwas frei, obwohl die PDS oft gar nicht als linke Partei auftritt. Und während in diese Lücke in den alten Bundesländern eigentlich nur die Nichtwähler stoßen, sind es im Osten die Nichtwähler und die PDS-Wähler. In der Zukunft werden wir klarmachen müssen, welches Profil die SPD zwischen diesen beiden Polen hat. Und eins ist klar: Es täte dem Freistaat Sachsen und dem Osten Deutschlands nicht gut, wenn sich die Wählerschaft nur auf diese beiden Parteien CDU und PDS konzentrieren könnte.
KREUZER: Nun ist die PDS auch in Leipzig im Vormarsch. Sie hat bei der Sachsen-Wahl den 2. Platz vor der SPD gemacht, sie verfügt jetzt im Stadtrat über 19 Sitze - genauso viel wie die Sozialdemokraten. Eine scharfe Abgrenzung treibt ihr nur mehr Wähler zu. Wie werden Sie im Stadtrat von Leipzig mit der PDS umgehen?
Tiefensee: Mir geht es um die Wählerschaft der PDS. Ich bin der Auffassung, daß mit einem geschärften Profil der SPD einem Großteil der PDS-Wähler in den sozialen Fragen klargemacht werden kann, daß die eigentliche Heimat ihrer Gedanken die SPD ist. Ich glaube, daß wir in Leipzig gut damit gefahren sind, die stadtentwicklungspolitisch wichtigen Fragen quer über alle Fraktionen im Konsens zu diskutieren. Das berühmte Leipziger Modell ist nicht das Prinzip der "wechselnden Mehrheit", wie Herr Schimpff immer sagt, sondern es ist das Werben um Mehrheit über eine SPD/CDU-Mehrheit hinaus. Wenn das so ist, dann leitet sich daraus mein Verhältnis zur PDS eindeutig ab. Deshalb gibt es keine Haudrauf-Politik, andererseits aber muß es eine scharfe Abgrenzung geben.
KREUZER: Wie können Sie das Profil der SPD schärfen?
Tiefensee: Wir haben nach wie vor strukturelle Probleme. In Sachsen sind 5.500 Mitglieder in der SPD, 28.000 in der PDS und 18.000 in der CDU. Die SPD ist eine junge Partei und hat demzufolge ein schwächeres Hinterland. Sie muß stärker auf die Jugendlichen setzen und aufpassen, daß sich PDS nicht mit diesem jugendlichen Protestsinn verbindet, mit der Ausrichtung, soziale Probleme in den Vordergrund zu stellen. Was das Profil der SPD nach wie vor ausmacht, ist, nicht wie die CDU ausschließlich den Arbeitgeber in den Blickpunkt zu stellen, nicht eine Wirtschaftspolitik nur im Sinne der Verkehrs- und Infrastruktur zu machen und in der Kommune nicht allein die Fragen der Sicherheit in den Vordergrund zu stellen, also letztlich die Prioritäten der Bürgerumfragen abzuarbeiten. Und auf der anderen Seite eine Partei wie die PDS, die ganz stark den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt, ohne sich danach zu fragen, wie das gedeckt ist mit dem, was machbar ist. Die SPD wird ihr Profil schärfen, wenn sie sich erstens um die Wirtschaftskraft und den Arbeitsmarkt kümmert und auf der anderen Seite deutlich macht, daß ihr diejenigen genauso wichtig sind, die dicht an der Kante stehen. Der Wähler muß begreifen, daß er zwischen diesen beiden anderen Polen wählen kann. In dem Maß aber, wie es sich auf diese beiden zuspitzt, wird eine wichtige politische Alternative geschwächt, die den Ausgleich zwischen diesen beiden Polen will.
KREUZER: Das sind nun alles Themen, die von der Bundes-SPD abhängen. Das können Sie als Oberbürgermeister hier vor Ort gar nicht so gut machen.
Tiefensee: Nehmen wir mal an, der Oberbürgermeister hat in der Stadt etwas zu sagen, wovon ich ausgehe. Da ist es doch ein Unterschied, ob ich jetzt alles - koste es was es wolle - in den Straßenbau und die Sicherheitsproblematik stecke - und alles andere wirklich nachrangig betrachte. Oder ich lege das Steuer auf die andere Seite und sage, wir müssen kostenlose Kindertagesstätten schaffen und überstrapaziere den Haushalt. Eine viel klügere Politik ist doch, wenn man den Ausgleich schafft.
KREUZER: Wäre es da nicht doppelt schlau, sowohl in Leipzig als OB prominent vertreten zu sein als auch im Bundesvorstand?
Tiefensee: Ja. Aber das ist ein riesiger Unterschied zum Amt des stellvertreten Vorsitzenden. Ich bin im Sommer ohne mein Zutun für den Bundesvorstand ins Gespräch gekommen und das hat seither eine Eigendynamik entfaltet. Und ob Sie es mir abnehmen oder nicht, ich sehe das auch immer auf dem Hintergrund, ob so eine Aufgabe unserer Stadt oder Sachsen zugute kommen kann. Es ist natürlich angenehm, auch überregional als Hoffnungsträger apostrophiert zu werden. Ich will mir diese ehrenamtliche Aufgabe ausdücklich offen halten, denn mir ginge nichts am Oberbürgermeister-Dasein verloren. Daß einer, der in der praktischen Politik steht, in dieser Funktion seine Stimme erhebt, könnte sehr wichtig sein. Im Laufe der nächsten Wochen werden wir das entscheiden.
KREUZER: Zurück zur Kommunalpolitik. Im Rathaus hat sich das Kräfteverhältnis verändert: Die CDU ist nun die stärkste Partei. Wie sieht da Ihr neuer Kurs aus, wird es eine feste Vereinbarung mit den Konservativen geben?
Tiefensee: Es gab eine feste Vereinbarung, doch deren Gegenstände waren einigermaßen nebulös. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß sich SPD und CDU in einem Grundsatzpapier oder auch wieder in einem Konsens-Dissens-Papier in einer höheren Qualität darüber abstimmen, was in der Priorität der nächsten Legislaturperiode zu machen ist und wo man unterschiedlicher Meinung ist. Man muß sagen, was man nachrangig behandelt haben will.
KREUZER: Was sind die nebulösen Stellen im alten Papier?
Tiefensee: Man kann zum Beispiel da reinschreiben, daß die beiden Parteien das wohnungspolitische Konzept unterstützen. Da tut keiner niemandem weh, und man hat auch nicht allzu viel gesagt. Wir müssen uns vielmehr darauf verständigen, ob wir Geld aus dem zweiten Arbeitsmarkt in die Gründerzeitsubstanz stecken wollen, ob das Wohnungsamt als ein Amt für sozial Gefährdete weiter bestehen soll und wie wir mit Obdachlosen und Asylbewerbern umgehen.
KREUZER: Wann wird der neue Konsens-Dissens gefunden sein?
Tiefensee: Das eilt doch nicht, da geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Die politischen Entscheidungen stehen in der großen Dimension Anfang nächsten Jahres an, wenn wir im Februar den Haushalt verabschieden wollen. Haushalt ist in Zahlen gegossene Politik.
KREUZER: Können Sie der Tatsache etwas abgewinnen, daß es in Leipzig rein rechnerisch eine "linke Mehrheit" gibt?
Tiefensee: Die Mehrheit sehe ich, es motiviert mich aber nicht, mit der PDS zusammenzugehen.
KREUZER: Die Hausmacht der CDU in Sachsen rückt auch die Sicherheit an prominente Stelle. Leipzig ist eine Modellstadt für Videoüberwachung - nicht unbedingt ein klassisches Thema der SPD...
Tiefensee: Ich habe überhaupt das Gefühl, wenn ich die Äußerungen der CDU summarisch sehe, daß eigentlich keine wesentlich neuen Akzente gesetzt werden. Die CDU fordert mit markigen Sprüchen, wir müßten mehr für den Straßenbau tun. Da verweise ich gerne auf einen genauen Blick in den aktuellen Haushalt: wir haben 300 Millionen für Investitionen ausgegeben, und stecken 100 Millionen in den Straßenbau. Ich finde ein Drittel ist schon eine ganze Menge.
KREUZER: Noch einmal: Sicherheit ist doch ein klassisches CDU-Thema. Ist das nicht Wasser auf den Mühlen derer, die bei diesem Thema doch lieber gleich das Original wählen, also die CDU?
Tiefensee: Ich halte nichts von einer ideologisch geprägten Parteidebatte. Wenn ich es für wichtig erachte, daß in dieser Stadt Straßen gebaut werden, dann ist es uninteressant, ob das landläufig ein SPD oder ein CDU-Thema ist. Ich denke, daß in der Kommunalpolitik die Meinungen so weit nicht auseinander gehen, da die Handlungsspielräume begrenzt und die Lösungsunterschiede nicht so unterschiedlich sind. Ich behaupte mal, es ist vom Wähler bei der letzten Kommunalwahl nicht berücksichtigt worden, daß wir eine ganz ausgewogene Stadtpolitik machen und die Balance aus Straßenbau, Sicherheit, Sozialem - sprich unser Modell des zweiten Arbeitsmarktes, Kindertagesstätten, drittes/viertes Kind kostenlos und die Kulturausgaben - halten. Das müßte eigentlich honoriert werden.
KREUZER: Nun kommt mitten in diese Ausgewogenheit, die sie fortzuführen gedenken, dieser politische Poltergeist Schimpff, den Sie vor der Nase haben werden. Wie sehen Sie der Auseinandersetzung entgegen?
Tiefensee: Ich sehe dem - wie soll ich sagen - mit Interesse entgegen. Wir haben profilierte, charismatische CDU-Politiker im Stadtrat über acht Jahre lang gehabt. In der Sicherheitsdebatte haben wir die Schlachten mit Herrn Schilling oder Herrn Clemen gefochten. Wenn es um die Kultur ging, erinnere ich mich an schöne Debatten mit Herrn Kölsch, und auch mit Herrn Bullinger haben wir trefflich gestritten, als es um die Connewitzer Szene ging. Wir werden uns mit Herrn Schimpff ... ich weiß gar nicht, warum ich den Namen so oft in den Mund nehme! Er ist ein normaler Fraktionsvorsitzender, der seine Meinung hat. Mich erstaunt natürlich, daß er es einen Eklat nennt, wenn er bei einer ganz normalen Abstimmung unterliegt. Gut, das kommt im Landtag relativ selten vor, aber ein Eklat ist es nicht.
KREUZER: Er hat ja von sich selbst gesagt, er sei ein politisches Schwergewicht.
Tiefensee: Ich habs noch nicht gesehen. Einer, der überall was tönt, ist doch nicht allein dadurch ein Schwergewicht. Es kommt darauf an, ob man auf eine ganz schwierige Frage eine ganz schwergewichtige Lösung durchzusetzen weiß.
KREUZER: Das führt uns zu einem wichtigen Hauptthema: Das Sparen. Schröder muß im Bund sparen, Sie in Leipzig: Was kommt an Einsparungen auf die Stadt zu?
Tiefensee: Schröder hat später angefangen, oder besser gesagt, die Bundeskanzler haben später angefangen als die Stadt Leipzig. Wir sparen, wir schneiden weg, um im konsumptiven und investiven Bereich Freiraum zu haben. Wir wollen keine neuen Großprojekte. Das Bildermuseum mit drei mal 20 Millionen DM steht dem Straßenbau mit drei mal 90 Millionen DM gegenüber. Was ist das Großprojekt? Auch der City-Tunnel mit jetzt fünf bis zehn Millionen DM steht einem Kulturetat der Oper mit zehn bis 15 Millionen DM gegenüber. Auch hier: Was ist das Großprojekt? Wir werden in der Breite investieren und da liegt das Schwergewicht wieder im Straßenbau, weil auch diesmal Gelder vom Freistaat kommen. Das nächste Schwergewicht ist in der gründerzeitlichen Substanz, also dem Ausgleich der Stadtteile. Wir werden im zweiten Arbeitsmarkt - sprich Vergabe ABM - investieren, um den Wohnungsbau voranzubringen. Wir werden im Freizeit, Sport- und Kulturbereich zulegen müssen. Wir werden sogar unseren Investitionshaushalt ausweiten, weil wir einen kleinen Teilbetrag aus den Stadtwerksverkauf reinnehmen. In diesem Jahr waren es 25 (undeutliche Stelle auf Band: oder 125 Millionen?) von den insgesamt 420 Millionen und im kommenden Jahr rechnen wir mit 20 Millionen DM.
KREUZER: Und wo wird gespart?
Tiefensee: Da haben wir fünf Kategorien, die im Haushalt 2000 insgesamt einhundert Millionen DM von 2,6 Milliarden DM Sparvolumen auf den Tisch zu bringen haben. In den ersten drei Kategorien, strategische Fragen, ämterübergreifende Projekte und Modernisierung, möchte ich 20 Millionen DM einsparen. Ich will den Bürgern deutlich machen, daß wir bei uns selbst den Gürtel enger schnallen, also nicht die Leistungen des Bürgers minimieren, sondern wir wollen schlicht schlanker werden. Wir legen Abteilungen zusammen, wir werden die Müllabfuhr ausgliedern und der Leipziger Verkehrs- und Versorgungs GmbH unterordnen. In der Kategorie vier stecken die Dezernate, die 60 Millionen einsparen müssen. Wir werden also in den Dezernaten Stellen abbauen. In der Kategorie fünf sind die Eigenbetriebe der Stadt, die die restlichen 20 Millionen Mark einsparen müssen.

INTERVIEW: Daniel Sturm / Björn Achenbach