Daniel Sturm
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Der Gefühls-Sozialist
Kreuzer, Oktober 1999

Jürgen Schlimper galt als der "Knuddelbär" unter den Journalistik-Dozenten, weil er sich geradezu philanthropisch für seine Studenten aufopferte. Seit Anfang 1999 ist er arbeitslos. Von den Eierschalen der DDR aber hat er sich (noch) nicht befreien können.

Die Wende hat er nicht gewollt und doch hat Dr. Jürgen Schlimper sich am 3. Oktober 1990 nach eigener Auffassung "freier" gefühlt, schließlich gab es definitiv kein Zurück mehr in die alte DDR. "Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr verantwortlich", sagt der 43jährige Journalistik-Dozent, der bis zuletzt an das System geglaubt hat. DDR hieß für ihn, der seit 1977 an der Karl-Marx-Universität in Leipzig war: forschen, ausschweifend schreiben und sich verantwortlich für die Errungenschaften des Sozialismus fühlen. "Ein Verständnis für Opposition habe ich nie gehabt."
Seine tragische Lebensgeschichte steht gleichermaßen Pate für das Funktionieren wie den Selbstzerstörungsmechanismus der DDR: Als Kind eines einfachen Angestellten und einer Invalidenrentnerin kommt er zuerst nicht für ein Studium in Frage, doch er schafft den Sprung nach Leipzig und arbeitet von 1981 an als Assistent von Prof. Günter Raue. Die Dankbarkeit gegenüber dem Staat sitzt tief, und wirkt auch heute noch geradezu krankhaft aufrecht. Von seinem Professor spricht er in dritter Form und die Sätze, in denen Schlimper seine Anbiederung an die Umstände zu erklären sucht, sind unverstellt entblößend: "Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber...", beschwichtigt er oft vorauseilend und formelhaft.
Zweifellos ist auch einigen westdeutschen Akademikern Unterwürfigkeit nicht fremd. Doch während es im Westen - nach hartnäckiger Unterwerfung - die Schleimspur so bald als möglich zu verlassen galt, hielt die DDR für solche Fälle einen Mega-Sumpf bereit. In Schlimpers Fall muß das Gefühl, dem System etwas zu schulden, so groß gewesen sein, daß er 1989 sogar einen Stasibericht mitverfaßte, ohne selbst aktives Mitglied des Staatssicherheitdienstes zu sein. "Das war ein allgemeiner Bericht zur Situation in Leipzig und ich war mit dem IM gut befreundet". Jürgen Schlimper hat bis 1988 mit Studenten im Internat zusammengelebt und er wollte sie erziehen. Auch zum Sozialismus. Dabei war es bezeichnenderweise nicht das böse System, das ihn etwa im Reservisten-Kollektiv richtiges "Herantreten an Vorgesetzte" üben ließ, sondern eigene Überzeugung. Deshalb ging Schlimper auch gerne mit Studenten einen trinken, um sie aus Loyalität gegenüber dem "System" als Reserveoffiziere anzuwerben. Die antrainierte Unterwürfigkeit, eine Art psychischer Selbstzerstörungsmechanismus, ließ ihn selbst diese Facette des Polizeistaates nicht anzweifeln. Dabei hatte Schlimper durchaus das Zeug dazu, den Dominoeffekt zu erkennen, der sich nun einmal in Gesellschaften ereignet, deren größte Arbeitgeber Militär, Polizei und Geheimdienst sind. Obwohl er viel über die Massenpresse in der Weimarer Republik gearbeitet hatte, sah er nicht, wohin die Monopolisierung der Gedanken führen konnte. "Natürlich ist es mir peinlich, wieviele Ähnlichkeiten es mit der Nazizeit gibt", sagt er heute und schiebt sofort eine Entschuldigung nach: "Man kann bestimmte Dinge, wenn man involviert ist, nicht erkennen."
Jürgen Schlimpers Trauer über seine Blindheit ist deutlich ungekünstelt. Ebenso klar ist die verspätete Selbsterkenntnis, "vom Denken her nicht sozialistisch, sondern stockkonservativ wie die CDU" gewesen zu sein. Gleichwohl hat Schlimper die Eierschalen seiner Vergangenheit nicht abschütteln können, denn immer noch spürt er die "Verantwortung" auf sich lasten. Weil er sich aus dieser nicht einfach wegstehlen wollte, übernahm er 1998 die Pressearbeit für den PDS-Kandidaten in der Oberbürgermeister-Wahl und unterstützt heute ehrenamtlich den PDS-Landtagsabgeordneten Werner Bramke. Mit seinem Hungerstreik gegen die Abwicklung vorbelasteter Journalistik-Professoren hat sich Schlimper Sympathiepunkte erworben. Als er seine eigene Stelle verlor, machten sich 699 Studenten mit einer Unterschrift für ihren "Schlimpi" stark. Schlimm für Schlimper, daß er momentan nur den Sachbearbeitern auf dem Arbeitsamt beweisen kann, "daß ich gelernt habe".
DANIEL STURM