Der Gefühls-Sozialist
Kreuzer, Oktober 1999
Jürgen Schlimper galt als der "Knuddelbär"
unter den Journalistik-Dozenten, weil er sich geradezu philanthropisch
für seine Studenten aufopferte. Seit Anfang 1999 ist er arbeitslos.
Von den Eierschalen der DDR aber hat er sich (noch) nicht befreien können.
Die Wende hat er nicht gewollt und doch hat Dr.
Jürgen Schlimper sich am 3. Oktober 1990 nach eigener Auffassung
"freier" gefühlt, schließlich gab es definitiv
kein Zurück mehr in die alte DDR. "Ich fühlte mich plötzlich
nicht mehr verantwortlich", sagt der 43jährige Journalistik-Dozent,
der bis zuletzt an das System geglaubt hat. DDR hieß für
ihn, der seit 1977 an der Karl-Marx-Universität in Leipzig war:
forschen, ausschweifend schreiben und sich verantwortlich für die
Errungenschaften des Sozialismus fühlen. "Ein Verständnis
für Opposition habe ich nie gehabt."
Seine tragische Lebensgeschichte steht gleichermaßen Pate für
das Funktionieren wie den Selbstzerstörungsmechanismus der DDR:
Als Kind eines einfachen Angestellten und einer Invalidenrentnerin kommt
er zuerst nicht für ein Studium in Frage, doch er schafft den Sprung
nach Leipzig und arbeitet von 1981 an als Assistent von Prof. Günter
Raue. Die Dankbarkeit gegenüber dem Staat sitzt tief, und wirkt
auch heute noch geradezu krankhaft aufrecht. Von seinem Professor spricht
er in dritter Form und die Sätze, in denen Schlimper seine Anbiederung
an die Umstände zu erklären sucht, sind unverstellt entblößend:
"Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber...", beschwichtigt
er oft vorauseilend und formelhaft.
Zweifellos ist auch einigen westdeutschen Akademikern Unterwürfigkeit
nicht fremd. Doch während es im Westen - nach hartnäckiger
Unterwerfung - die Schleimspur so bald als möglich zu verlassen
galt, hielt die DDR für solche Fälle einen Mega-Sumpf bereit.
In Schlimpers Fall muß das Gefühl, dem System etwas zu schulden,
so groß gewesen sein, daß er 1989 sogar einen Stasibericht
mitverfaßte, ohne selbst aktives Mitglied des Staatssicherheitdienstes
zu sein. "Das war ein allgemeiner Bericht zur Situation in Leipzig
und ich war mit dem IM gut befreundet". Jürgen Schlimper hat
bis 1988 mit Studenten im Internat zusammengelebt und er wollte sie
erziehen. Auch zum Sozialismus. Dabei war es bezeichnenderweise nicht
das böse System, das ihn etwa im Reservisten-Kollektiv richtiges
"Herantreten an Vorgesetzte" üben ließ, sondern
eigene Überzeugung. Deshalb ging Schlimper auch gerne mit Studenten
einen trinken, um sie aus Loyalität gegenüber dem "System"
als Reserveoffiziere anzuwerben. Die antrainierte Unterwürfigkeit,
eine Art psychischer Selbstzerstörungsmechanismus, ließ ihn
selbst diese Facette des Polizeistaates nicht anzweifeln. Dabei hatte
Schlimper durchaus das Zeug dazu, den Dominoeffekt zu erkennen, der
sich nun einmal in Gesellschaften ereignet, deren größte
Arbeitgeber Militär, Polizei und Geheimdienst sind. Obwohl er viel
über die Massenpresse in der Weimarer Republik gearbeitet hatte,
sah er nicht, wohin die Monopolisierung der Gedanken führen konnte.
"Natürlich ist es mir peinlich, wieviele Ähnlichkeiten
es mit der Nazizeit gibt", sagt er heute und schiebt sofort eine
Entschuldigung nach: "Man kann bestimmte Dinge, wenn man involviert
ist, nicht erkennen."
Jürgen Schlimpers Trauer über seine Blindheit ist deutlich
ungekünstelt. Ebenso klar ist die verspätete Selbsterkenntnis,
"vom Denken her nicht sozialistisch, sondern stockkonservativ wie
die CDU" gewesen zu sein. Gleichwohl hat Schlimper die Eierschalen
seiner Vergangenheit nicht abschütteln können, denn immer
noch spürt er die "Verantwortung" auf sich lasten. Weil
er sich aus dieser nicht einfach wegstehlen wollte, übernahm er
1998 die Pressearbeit für den PDS-Kandidaten in der Oberbürgermeister-Wahl
und unterstützt heute ehrenamtlich den PDS-Landtagsabgeordneten
Werner Bramke. Mit seinem Hungerstreik gegen die Abwicklung vorbelasteter
Journalistik-Professoren hat sich Schlimper Sympathiepunkte erworben.
Als er seine eigene Stelle verlor, machten sich 699 Studenten mit einer
Unterschrift für ihren "Schlimpi" stark. Schlimm für
Schlimper, daß er momentan nur den Sachbearbeitern auf dem Arbeitsamt
beweisen kann, "daß ich gelernt habe".
DANIEL STURM