"Vielleicht ist der dumme Sachse eine Erfindung des
Berliner Theaters"
Professor Heinz-Werner Wollersheim, 44, leitet das Sonderforschungsprojekt
"Wie werde ich Sachse" an der Universität Leipzig.
Kreuzer, November 1999
KREUZER: Die Dresdner Bürgerinitiative "Sachsen-für-Sachsen"
hat 1,5 Millionen Haushalte angeschrieben, um herauszufinden, warum
sich "Sachsen wohler als die meisten anderen fühlen".
Haben Sie eine These?
Wollersheim: Ich denke, daß allein die Frage ein Nachdenken darüber
auslöst, ob man sich als Sachse nicht ein bißchen wohler
fühlen kann. Es gibt da zwei Ebenen: das eine ist ein Sich-Wehren
gegen die Gestalt des kabarettistisch verdummten Sachsen - das ist übrigens
ein Topos, der seit den 30er Jahren schon für sächsische Heimatfunktionäre
ganz wichtig war. Das andere ist ein wieder beginnender Regionalstolz
auf den relativen ökonomischen Wohlstand, den Sachsen innerhalb
der östlichen Bundesländer erreicht hat.
KREUZER: Die Thüringer beispielsweise verhalten sich stiller, sind
aber wirtschaftlich recht erfolgreich. Gibt es da einen Zusammenhang?
Wollersheim: Die Thüringer haben einfach später angefangen.
Ich denke, daß Kurt Biedenkopf einer der Erfinder dieses sächsischen
Modells ist. Eine der größten Leistungen ist unbestritten,
Sachsen aus einer "ostdeutschen" Identität herauszulösen
und hier eine neue alte "sächsische" Identität zu
etablieren.
KREUZER: Die Initiative will das Bild vom "Jammer-Ossi" revidieren.
Jetzt soll stattdessen der fleißige Sachse in den Vordergrund
treten. Sie versuchen herauszufinden, "ob sich regionenbezogene
Identitätsmuster einsetzen lassen, um Menschen zu mobilisieren".
Erste Antworten?
Wollersheim: Nein, aber wir haben natürlich einen Ansatz. Die sächsische
Identität muß sich auf das Handeln nachweisen lassen. Vielleicht
ist es so ähnlich wie mit dem Markenbewußtsein bei Konsumenten.
Wenn mir meine Levis nicht mehr gefällt, dann habe ich die Möglichkeit,
dem Hersteller zu schreiben oder eine Marke zu zeigen. Zur Messung bieten
sich also Krisensituationen an. Bleiben Menschen mit einer ausgeprägten
sächsischen Identität eher hier oder verlassen sie Sachsen?
KREUZER: Ist nicht eher anzunehmen, daß solche Initiativen eher
schon bestehende Vorurteile bestätigen und damit genau das Gegenteil
ihres Ziels erreichen?
Wollersheim: Wenn ich mir die Argumente auf der Internetseite von Sachsen-für-Sachsen
durchlese...
KREUZER: ... 4,5 Millionen Argumente.
Wollersheim: ...es sind höchstens 20 Argumente, die sich 4,5 Millionen
mal finden. Mir fällt auf, daß sich der größte
Teil der Argumente keineswegs auf Sachsen bezieht, sondern mit anderen
Regionen austauschbar wäre. Da könnte ein Rheinländer
genauso gut sagen, "ich liebe das Rheinland, weil die Menschen
nett und freundlich sind".
KREUZER: Warum rückt man denn dann nicht anstelle der alten Etikette
"sächsisch" die Werte selbst in den Vordergrund. Wir,
die Porzellanfabrikanten...
Wollersheim: Die Kunst besteht doch darin, Menschen in Gruppen zu integrieren,
bei denen diese gemeinsamen Merkmale nicht im äußeren Bereich
vorhanden sind. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und habe erlebt, wie
Johannes Rau Ende der 70er Jahre dieses Bindestrich-Bundesland mit einem
sehr simplen Slogan bearbeitet hat. "Wir in Nordrhein-Westfalen".
Dieser Apell ans Wirgefühl geht mir als historisch denkendem Mensch
ein stückweit auf den Keks, aber Rau hat damit in seinen Wahlkämpfen
ganz bestimmten Gruppen so etwas wie soziale Wärme vermittelt.
Und die Leute wollten das.
KREUZER: In Deutschland hatten die Regionen immer schon eine starke
Verankerung. So stark, daß sich Kotzebue 1802 über die Großspurigkeit
und den kleinen Geist der "Deutschen Kleinstädter" amüsierte.
Über die Bayern lacht man heute aus demselben Grund, kommen jetzt
die Sachsen dazu?
Wollersheim: Da wäre ich sehr zögerlich, weil Sachsen die
historisch am frühesten urbanisierte Region mit der höchsten
Städtedichte ist.
KREUZER: Woher kommt das Bild des dümmlichen Sachsen aus den 30er
Jahren dann?
Wollersheim: Im frühen 19. Jahrhundert steigt Sachsen politisch
ab und muß nach 1815 riesige Gebiete abtreten. Nach diesem Schock
beginnt relativ schnell eine Neupositionierung in Richtung Berlin-Preußen:
wir sind zwar nicht mehr militärisch konkurrenzfähig, aber
wir sind die kulturelle Großmacht an der Elbe. Die spannende Frage
wäre, ob diese Figur des dümmlichen Sachsen erstmals im Berliner
Theater auftaucht, um diesen hochtrabenden Traum von der kulturellen
Großmacht zu konterkarieren. Ich würde mir auch nicht ständig
erzählen lassen, die Weisheit sitzt in Dresden. Heute würde
ich das über den Eulenspiegel machen...
KREUZER: Welche Eigenschaften hat Ihrer Meinung nach der Sachse?
Wollersheim: Ich glaube, daß es verschiedene sächsische Identitäten
gibt. Etwa das Bewußtsein, Wiege der deutschen Arbeiterbewegung
zu sein, der Bürgerstolz in Leipzig und Dresden ist genauso wichtig.
Außerdem gibt es den Mythos vom unerschütterlich Erfindergeist
der Sachsen, den auch die SED nicht korrumpieren konnte. Im politischen
Raum besteht die Kunst darin, diese Merkmale dann für Handlungen
zu mobilisieren.
KREUZER: Was ist mit Sport? Haben die Sachsen nicht ihren Regional-Stolz,
doch es fehlt ihnen nur die Projektionsfläche? Dynamo Dresden,
Lokomotive und Chemie Leipzig...
Wollersheim: Das bezweifle ich. In der Generation meiner Kinder spielt
das regionale Element überhaupt keine Rolle, sondern bis zu einer
bestimmten Altersstufe ist es der Tabellenführer, der attraktiv
auf kleine Jungs wirkt - meistens Bayern München.
KREUZER: Sie haben ein Jahresbudjet von 1,5 Millionen Mark, der Initiative
Sachsen-für-Sachsen stehen 2,5 Millionen Mark zur Verfügung.
Sponsoren sind u.a. Volkswagen und die Meißner Porzellan-Manufaktur.
Verpulvert die Industrie das nicht viel Geld, das sie besser in seriöse
Forschung stecken sollte?
Wollersheim: Da will ich jetzt gar keine Schelte betreiben. Für
Geisteswissenschaftler sind 1,5 Millionen DM eine Wahnsinns Menge, wenn
Sie bedenken, daß ich hier an der Uni normalerweise einen Telefonetat
von 21 DM im Monat habe.
KREUZER: Arbeiten Sie mit Ihrer Studie an der sächsischen Identität
mit?
Wollersheim: Wir wollen wissen, wie Regionen funktionieren. Wir fangen
in Sachsen an, weil es hier das auffällige Phänomen der Re-Regionalisierung
gibt. Wir hätten vielleicht auch Mecklenburg nehmen können,
aber böse Zungen haben gesagt, da kann man keine Interviews machen,
weil es zu lange dauert, bis die Antworten kommen.Wir werden aber nicht
aktiv am Mythos Sachsen mitarbeiten.
KREUZER: In Ihrem Projekt thematisieren Sie auch negative Formen der
Identität. Die Umweltverschmutzung und der wüste Tagebau.
Überspitzt gesagt: Kann Bitterfeld regionale Identität stiften?
Wollersheim: Ich habe gelernt, daß nicht die Wunden identitätsbildend
sind, sondern die Dinge, die einfach da sind. Nehmen Sie nur den Tagebau
in der Region Cottbus. Erst ist man stolz darauf, daß man den
größten frei beweglichen Braunkohlebagger hat, und jetzt
rostet das Ding vor sich hin.
KREUZER: Im Leipziger Südraum ist der Tagebau fast völlig
geflutet. Werden die Bewohner eher etwas vermissen, oder dieses neue
Seengebiet in ihr Identitäts-Konzept einbauen?
Wollersheim: Das wird etwas damit zu tun haben, wie sie in den Prozeß
der Wohlstandsentwicklung einbezogen werden können. Ich habe nichts
gegen Golfplätze, aber wenn ich selber von der Stütze und
aus historischen Gründen an den Rändern eines Golfplatzes
leben würde, dann hätte ich ein Problem.
KREUZER: Dann doch lieber den Tagebau...
Wollersheim: Richtig. Der Südraum soll ja einmal die bevorzugte
Wohngegend werden, das neue Freizeitparadies. Das wird Klein-Starnberg.
Da wird sich in der jetzigen Wohnbevölkerung eine Menge entmischen
- mit allen Folgen.
INTERVIEW: DANIEL STURM
Prof. Dr. Heinz-Werner Wollersheim, 42, Studium der
Physik, Mathematik, Erziehungswissenschaft, Philosophie und Pädagogik
in Bonn, promoviert 1987 über "Jugendideal und Wirklichkeit",
habilitiert mit 35 über "Bewältigungsstrategien",
seit März 1993 pendelt er zwischen Köln und L.E.