Daniel Sturm
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"Vielleicht ist der dumme Sachse eine Erfindung des Berliner Theaters"
Professor Heinz-Werner Wollersheim, 44, leitet das Sonderforschungsprojekt "Wie werde ich Sachse" an der Universität Leipzig.
Kreuzer, November 1999

KREUZER: Die Dresdner Bürgerinitiative "Sachsen-für-Sachsen" hat 1,5 Millionen Haushalte angeschrieben, um herauszufinden, warum sich "Sachsen wohler als die meisten anderen fühlen". Haben Sie eine These?
Wollersheim: Ich denke, daß allein die Frage ein Nachdenken darüber auslöst, ob man sich als Sachse nicht ein bißchen wohler fühlen kann. Es gibt da zwei Ebenen: das eine ist ein Sich-Wehren gegen die Gestalt des kabarettistisch verdummten Sachsen - das ist übrigens ein Topos, der seit den 30er Jahren schon für sächsische Heimatfunktionäre ganz wichtig war. Das andere ist ein wieder beginnender Regionalstolz auf den relativen ökonomischen Wohlstand, den Sachsen innerhalb der östlichen Bundesländer erreicht hat.
KREUZER: Die Thüringer beispielsweise verhalten sich stiller, sind aber wirtschaftlich recht erfolgreich. Gibt es da einen Zusammenhang?
Wollersheim: Die Thüringer haben einfach später angefangen. Ich denke, daß Kurt Biedenkopf einer der Erfinder dieses sächsischen Modells ist. Eine der größten Leistungen ist unbestritten, Sachsen aus einer "ostdeutschen" Identität herauszulösen und hier eine neue alte "sächsische" Identität zu etablieren.
KREUZER: Die Initiative will das Bild vom "Jammer-Ossi" revidieren. Jetzt soll stattdessen der fleißige Sachse in den Vordergrund treten. Sie versuchen herauszufinden, "ob sich regionenbezogene Identitätsmuster einsetzen lassen, um Menschen zu mobilisieren". Erste Antworten?
Wollersheim: Nein, aber wir haben natürlich einen Ansatz. Die sächsische Identität muß sich auf das Handeln nachweisen lassen. Vielleicht ist es so ähnlich wie mit dem Markenbewußtsein bei Konsumenten. Wenn mir meine Levis nicht mehr gefällt, dann habe ich die Möglichkeit, dem Hersteller zu schreiben oder eine Marke zu zeigen. Zur Messung bieten sich also Krisensituationen an. Bleiben Menschen mit einer ausgeprägten sächsischen Identität eher hier oder verlassen sie Sachsen?
KREUZER: Ist nicht eher anzunehmen, daß solche Initiativen eher schon bestehende Vorurteile bestätigen und damit genau das Gegenteil ihres Ziels erreichen?
Wollersheim: Wenn ich mir die Argumente auf der Internetseite von Sachsen-für-Sachsen durchlese...
KREUZER: ... 4,5 Millionen Argumente.
Wollersheim: ...es sind höchstens 20 Argumente, die sich 4,5 Millionen mal finden. Mir fällt auf, daß sich der größte Teil der Argumente keineswegs auf Sachsen bezieht, sondern mit anderen Regionen austauschbar wäre. Da könnte ein Rheinländer genauso gut sagen, "ich liebe das Rheinland, weil die Menschen nett und freundlich sind".
KREUZER: Warum rückt man denn dann nicht anstelle der alten Etikette "sächsisch" die Werte selbst in den Vordergrund. Wir, die Porzellanfabrikanten...
Wollersheim: Die Kunst besteht doch darin, Menschen in Gruppen zu integrieren, bei denen diese gemeinsamen Merkmale nicht im äußeren Bereich vorhanden sind. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und habe erlebt, wie Johannes Rau Ende der 70er Jahre dieses Bindestrich-Bundesland mit einem sehr simplen Slogan bearbeitet hat. "Wir in Nordrhein-Westfalen". Dieser Apell ans Wirgefühl geht mir als historisch denkendem Mensch ein stückweit auf den Keks, aber Rau hat damit in seinen Wahlkämpfen ganz bestimmten Gruppen so etwas wie soziale Wärme vermittelt. Und die Leute wollten das.
KREUZER: In Deutschland hatten die Regionen immer schon eine starke Verankerung. So stark, daß sich Kotzebue 1802 über die Großspurigkeit und den kleinen Geist der "Deutschen Kleinstädter" amüsierte. Über die Bayern lacht man heute aus demselben Grund, kommen jetzt die Sachsen dazu?
Wollersheim: Da wäre ich sehr zögerlich, weil Sachsen die historisch am frühesten urbanisierte Region mit der höchsten Städtedichte ist.
KREUZER: Woher kommt das Bild des dümmlichen Sachsen aus den 30er Jahren dann?
Wollersheim: Im frühen 19. Jahrhundert steigt Sachsen politisch ab und muß nach 1815 riesige Gebiete abtreten. Nach diesem Schock beginnt relativ schnell eine Neupositionierung in Richtung Berlin-Preußen: wir sind zwar nicht mehr militärisch konkurrenzfähig, aber wir sind die kulturelle Großmacht an der Elbe. Die spannende Frage wäre, ob diese Figur des dümmlichen Sachsen erstmals im Berliner Theater auftaucht, um diesen hochtrabenden Traum von der kulturellen Großmacht zu konterkarieren. Ich würde mir auch nicht ständig erzählen lassen, die Weisheit sitzt in Dresden. Heute würde ich das über den Eulenspiegel machen...
KREUZER: Welche Eigenschaften hat Ihrer Meinung nach der Sachse?
Wollersheim: Ich glaube, daß es verschiedene sächsische Identitäten gibt. Etwa das Bewußtsein, Wiege der deutschen Arbeiterbewegung zu sein, der Bürgerstolz in Leipzig und Dresden ist genauso wichtig. Außerdem gibt es den Mythos vom unerschütterlich Erfindergeist der Sachsen, den auch die SED nicht korrumpieren konnte. Im politischen Raum besteht die Kunst darin, diese Merkmale dann für Handlungen zu mobilisieren.
KREUZER: Was ist mit Sport? Haben die Sachsen nicht ihren Regional-Stolz, doch es fehlt ihnen nur die Projektionsfläche? Dynamo Dresden, Lokomotive und Chemie Leipzig...
Wollersheim: Das bezweifle ich. In der Generation meiner Kinder spielt das regionale Element überhaupt keine Rolle, sondern bis zu einer bestimmten Altersstufe ist es der Tabellenführer, der attraktiv auf kleine Jungs wirkt - meistens Bayern München.
KREUZER: Sie haben ein Jahresbudjet von 1,5 Millionen Mark, der Initiative Sachsen-für-Sachsen stehen 2,5 Millionen Mark zur Verfügung. Sponsoren sind u.a. Volkswagen und die Meißner Porzellan-Manufaktur. Verpulvert die Industrie das nicht viel Geld, das sie besser in seriöse Forschung stecken sollte?
Wollersheim: Da will ich jetzt gar keine Schelte betreiben. Für Geisteswissenschaftler sind 1,5 Millionen DM eine Wahnsinns Menge, wenn Sie bedenken, daß ich hier an der Uni normalerweise einen Telefonetat von 21 DM im Monat habe.
KREUZER: Arbeiten Sie mit Ihrer Studie an der sächsischen Identität mit?
Wollersheim: Wir wollen wissen, wie Regionen funktionieren. Wir fangen in Sachsen an, weil es hier das auffällige Phänomen der Re-Regionalisierung gibt. Wir hätten vielleicht auch Mecklenburg nehmen können, aber böse Zungen haben gesagt, da kann man keine Interviews machen, weil es zu lange dauert, bis die Antworten kommen.Wir werden aber nicht aktiv am Mythos Sachsen mitarbeiten.
KREUZER: In Ihrem Projekt thematisieren Sie auch negative Formen der Identität. Die Umweltverschmutzung und der wüste Tagebau. Überspitzt gesagt: Kann Bitterfeld regionale Identität stiften?
Wollersheim: Ich habe gelernt, daß nicht die Wunden identitätsbildend sind, sondern die Dinge, die einfach da sind. Nehmen Sie nur den Tagebau in der Region Cottbus. Erst ist man stolz darauf, daß man den größten frei beweglichen Braunkohlebagger hat, und jetzt rostet das Ding vor sich hin.
KREUZER: Im Leipziger Südraum ist der Tagebau fast völlig geflutet. Werden die Bewohner eher etwas vermissen, oder dieses neue Seengebiet in ihr Identitäts-Konzept einbauen?
Wollersheim: Das wird etwas damit zu tun haben, wie sie in den Prozeß der Wohlstandsentwicklung einbezogen werden können. Ich habe nichts gegen Golfplätze, aber wenn ich selber von der Stütze und aus historischen Gründen an den Rändern eines Golfplatzes leben würde, dann hätte ich ein Problem.
KREUZER: Dann doch lieber den Tagebau...
Wollersheim: Richtig. Der Südraum soll ja einmal die bevorzugte Wohngegend werden, das neue Freizeitparadies. Das wird Klein-Starnberg. Da wird sich in der jetzigen Wohnbevölkerung eine Menge entmischen - mit allen Folgen.
INTERVIEW: DANIEL STURM

Prof. Dr. Heinz-Werner Wollersheim, 42, Studium der Physik, Mathematik, Erziehungswissenschaft, Philosophie und Pädagogik in Bonn, promoviert 1987 über "Jugendideal und Wirklichkeit", habilitiert mit 35 über "Bewältigungsstrategien", seit März 1993 pendelt er zwischen Köln und L.E.