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"Weise Druiden vom Zuschnitt eines
Ghandi"
Prof. Dieter Otten, Leiter der Forschungsgruppe ,Internet-Wahlen"
in Osnabrück, über Demokratie im Netz.
Media Tenor-Forschungsbericht, 7. Jahrg. Nr. 102, 15. November 2000
Die Entscheidung der Clinton-Administration,
fünf von 19 Direktoren der Internet-Organisation ICANN demokratisch
wählen zu lassen, wurde schnell als Feigenblatt abgekanzelt. Zu
schwer wiegen die Einwände gegen das Vergabesystem der sogenannten
Top-Level-Domains, das wegen des historisch bedingten Vorsprungs der
USA von den übrigen Internet-Schwellenländern als hegemonial
empfunden wird. Im Gespräch mit dem Medien Tenor erklärt der
Osnabrücker Professor Dieter Otten, warum er nicht für die
Wahlen kandidiert hat und was er mit der Forderung nach "mehr Demokratie
im Internet" meint. Das Interview führte Daniel Sturm.
Medien Tenor: Die gegenwärtige Präsidentin
von ICANN, Esther Dyson, macht keinen Hehl daraus, dass sie froh ist,
von Bord der Möchte-Gern-Regierung ICANN zu gehen. Können
Sie sich ihre Gründe ausmalen?
Dieter Otten: Mir sind die Gründe vollkommen klar. Ich glaube,
daß ICANN völlig überschätzt wird. Die romantisch-utopische
Idee, wir könnten eine Weltregierung wählen, löst bei
so vielen Menschen so viel Begeisterung aus. Aber der Schwung ist größer
als der reale Sachverhalt. Die Sehnsucht nach einer Weltregierung ist
offenbar so groß, daß beim geringsten Funken von Hoffnung
der Hype einsetzt.
Medien Tenor: Warum haben Sie sich für eine Kandidatur interessiert,
wo von Anfang an klar war, daß die Organisation nach einem demokratischen
Feigenblatt sucht?
Dieter Otten: Ich habe ja gar nicht ernsthaft kandidiert. Ich bin auf
einer ICANN-Konferenz gefragt worden, ob ich kandidieren möchte
und habe gesagt, daß ich mir das überlegen werde. Irgendwer
im Spiegel hat dann das Gerücht verbreitet, und ich habe sechs
oder sieben Pressegespräche geführt. Ich hätte es schon
gut gefunden, wenn es ein Gremium gäbe, das eine Art Wächteramt
über die Demokratie im Internet ausüben würde. Ich glaube
auch, daß ganz viele Menschen diesen Wunsch haben, weil die Bedrohungen
des Netzes durch Geheimdienste, Konzern- und politische Interessen riesig
groß sind und die Menschen das Gefühl haben, daß es
eines Korrektivs zu diesen mächtigen Agenturen bedarf. ICANN hat
gar nichts damit zu tun. Das einzige, was ICANN in den Vordergrund gepusht
hat, ist die Entscheidung der Clinton-Administration.
Medien Tenor: Nun steckt hinter ICANN immerhin die US-Regierung. Glauben
Sie, die Vereinigten Staaten tun das ganz uneigennützig? Immerhin
wurden 9 von 18 Direktoren direkt von der Regierung eingesetzt.
Dieter Otten: Diskutiert wurde dies auf einem G-7-Gipfel. Die deutsche
Seite hat gesagt, daß es nicht akzeptabel ist, daß das Internet
ausschließlich unter amerikanischer Flagge fährt. Die Europäer
machen zwar inzwischen mehr Traffic als die Amerikaner, aber 90 Prozent
der Geldströme aus dem Verkauf der Top-Level-Domains fließen
nach wie vor in die USA. Wenn Sie sich überlegen, wieviele Webseiten
in Deutschland allein jeden Monat angemeldet werden und Sie sehen, wieviel
Sie dafür bezahlen, dann verstehen Sie, daß das Deutsche
Network Information Center (Denic), die hiesige Top-Level-Domain-Verwalterin,
fast eine Lizenz zum Gelddrucken hat.
Medien Tenor: Ist die Einführung neuer Top-Level-Domains, um die
es im "Tagesgeschäft" der nächsten ICANN-Monate
gehen wird, aus Ihrer Sicht ein Thema, das eine Regierung in die Hand
nehmen muß?
Dieter Otten: Letztlich müssen die G-7-Staaten auf einem der nächsten
Gipfel eine Regelung finden. Das ist auch das Ziel, das unser Wirtschaftsministerium
anstrebt. Daß alle diejenigen, die Top-Level-Domains vergeben
können, gleichberechtigt global an dem selben Strang ziehen können.
Es muß möglich sein, bei Denic auch eine andere Top-Level-Domain
als ".de" kaufen zu können.
Medien Tenor: Was halten Sie vom Vorstoß des Rates der Europäischen
Union, eine eigene Domain ".eu" zu beantragen?
Dieter Otten: Es wäre ein Fortschritt, aber die verkaufen auch
wieder die Amerikaner!
Medien Tenor: Überall dort, wo in den letzten 300 Jahren Forderungen
nach Demokratie laut wurden, galt es, das bestehende Herrschaftssystem
- einiger weniger über fast alle - zu brechen. Wer herrscht über
das Internet?
Dieter Otten: Gute Frage. Zunächst mal niemand. Das Internet ist
ja auch nur eine logische Schicht innerhalb des ohnehin bestehenden
Telekommunikations-Netzes. Die Telefonleitungen gehören den Netz-Providern
und die sind im Prozeß der Liberalisierung und Kommerzialisierung
auch erkennbar die Eigentümer des gesamten Systems. Die logische
Ebene des Internets, das TCP/IP-Protokoll, das Routing-System, gehört
letztlich niemandem. Das Internet hat schon eine Art anarchische Struktur
und braucht auch keine Regierung, weil es sich faktisch selbst reguliert.
Die Idee einer zentralen Regierung ist irgendwie "altweltlich".
Die Frage ist eben nur: Verstehen wir das Internet alle oder gibt es
eine Institution, die uns das klar macht? Das wäre eigentlich nicht
nötig. Wir haben genug Möglichkeiten, Router aufzubauen, wenn
wir nur am Netz dranhängen, einen entsprechenden Server haben,
das IP-Protokoll benutzen können und ein Unix-System fahren können.
Das kann aber dank Linux fast jeder.
Medien Tenor: Dann wäre Ihre Forderung "Mehr Demokratie im
Internet!", die Sie mal provozierend erhoben haben, in erster Linie
als Selbst-Aufforderung zu verstehen?
Dieter Otten: "Demokratie im Internet" bedeutet für mich,
daß alles noch viel transparenter wird als bisher. Das geht natürlich
- wie wir alle wissen - mit der Entzauberung des Internets einher. Sie
kennen diesen Witz: Was macht man, wenn man arm ist und Geld braucht?
Man geht auf den Platz mit dem Baum, auf dem in Kalifornien die ganzen
Venture-Kapitalisten sitzen, führt einen Hopi-Indianer-Tanz auf
und singt: "Internet, Internet, Internet." Daraufhin purzeln
die Dollars nur so herunter. Dann gründen Sie eine Firma, werden
steinreich. Nachdem Sie die Firma verkauft haben, werden Sie Venture-Kapitalist,
setzen sich auf den Baum und warten bis einer kommt und "Internet,
Internet, Internet" singt.
Medien Tenor: Ausgehend von diesem Witz: Demokratie braucht ja Sprachrohre.
Kann das Internet ein solches sein, durch das der Einzelne mächtig
wie ein Unternehmen auftritt?
Dieter Otten: Ein-Mann-Unternehmertum. Die User eben! Warum soll nicht
jeder versuchen, sich durch eine Webseite darzustellen. Das geht ja
in Richtung Beuys. Noch bevor jeder einen PC haben sollte, sollte jeder
eine eigene Webseite haben.
Medien Tenor: Demokratie konnte in Deutschland bekanntlich nur unter
Zwang Fuß fassen. Nun stellen die Deutschen innerhalb Europas
den Löwenanteil der Wählerschaft. Haben Sie eine Erklärung?
Dieter Otten: Dasselbe gilt für das Internet. Es ist "propellert"
worden, wie man so schön sagt. Das heißt, die Redaktion von
Spiegel-Online hat das Thema entdeckt und Power dafür gemacht hat.
Dann hat es Bertelsmann zur nationalen Aufgabe erklärt. Auf diese
Weise sind ganz viele Menschen, die vorher nicht einmal wußten,
daß es ICANN gibt, plötzlich mit der Überschrift "Wir
wählen unsere Weltregierung" animiert worden, sich einzuschreiben.
Schon über der Grenze, in Holland, hat von dem ganzen ICANN-Hype
niemand etwas mitbekommen.
Medien Tenor: Sie prophezeien dem deutschen ICANN-Mitglied Andy Müller-Maguhn,
Boss des Chaos Computer Clubs, daß er nicht - wie von ihm angestrebt
- ICANN von innen her lahmlegen können wird, sondern daß
eher der umgekehrte Fall eintritt. Der Wandel des Menschen durch das
Amt gewissermaßen. Ist die Internet-Community nicht zuletzt deshalb
so schwer regierbar, weil die alten Organisationen nicht mehr passen?
Dieter Otten: Ja, das ist sicher ein Problem. Ich wünschte mir
dieses Wächter-Amt auch mehr in Gestalt von so fünf, sechs,
sieben weisen Druiden vom Zuschnitt eines Mahatma Ghandi oder Albert
Schweizer.
Medien Tenor: Oder vielleicht doch Dieter Otten?
Dieter Otten: Ich bin noch zu jung dafür. In fünf Jahren läßt
sich darüber reden. Menschen, die einfach gar keine Ambitionen
mehr haben, weder Geld machen wollen noch das Gefühl haben, sie
müßten sich hervortun. Ich wünsche mir, daß die
so ein Art "Aedium" (= Tempel) des Internets bilden würden.
Es ist schon richtig: Die Politik braucht menschliche Verkörperungen.
Man muß sich vor Augen halten, daß die Hälfte der EU-Staaten
immer noch von Monarchen regiert werden. Ich glaube nicht, daß
man wirklich dieses Wächteramt ausüben muß, indem man
machtvolle Instrumente aufbaut, um gewissermaßen der Telekom das
Handwerk zu legen.
Medien Tenor: Die Gefahr, sagen Sie, droht von den großen Providern,
die das Netz in verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Gebühren
und Dienstleistungen aufteilen wollen. Eine neue Klassengesellschaft?
Dieter Otten: Diese Gefahr ist da, weil es einfach knappe Güter
gibt. Leitung ist knapp. Wer sich um 17 Uhr vor die Kiste setzt, muß
manchmal sehr lange warten, um an Informationen zu kommen. In der Medien-Analyse
2000 kommt heraus, daß nur 14 Prozent der Deutschen das Internet
nutzen, auf der Basis von 57.000 Telefon-Interviews. Das ist schon eine
ziemlich gute Fallzahl und somit eine seriöse Quelle. Aus diesen
Zahlen läßt sich schließen, daß das Internet
im wesentlichen ein business-to-business-Kanal sein wird. In diesem
Fall stören die ganzen Junkies sowieso nur. Ich neige zu einer
ähnlichen Vorhersage wie Nicholas Negroponte: In fünf Jahren
ist der ganze Spuk vorbei. Dann wird es segmentierte Informations-Kanäle
geben. High-Speed, Low-Speed und wir werden wieder eine Form der Kommunikation
haben, wo wir uns im wesentlichen doch wieder entlang der alten Straße
bewegen, die wir aus der Vergangenheit auch kennen.
Medien Tenor: Werden die anarchischen Strukturen im Netz, die Sie immer
gelobt haben, dann nur noch von Zeit zu Zeit als Nachhall aus der glorreichen
Vergangenheit aufflackern, wenn eine Gruppe von Hackern wieder einmal
Quellcodes knackt?
Dieter Otten: Ich sehe den Schutz vor solchen Hacker-Angriffen als Aufgabe
der demokratischen Regierungen. Neulich hat einer ein Internet-Ministerium
gefordert, ich glaube Guido Westerwelle. Es wäre auch nicht schlecht,
wenn die G-7-Staaten ein Internet-Board mit solchen weisen Druiden einrichten
würden. Das Anarchische an der Struktur des Netzwerks, in das jeder
einspeisen und one-to-many zum Nulltarif machen kann, wird immer bleiben.
Nur muß man sich davor hüten zu glauben, daß das nennenswert
viele Menschen in der ganzen Bevölkerung erreichen wird. Man darf
sich über die Nutzergruppen keine Illusionen machen: Menschen,
die das Internet am meisten nutzen, tun das von berufswegen oder wegen
der Ausbildung. Studenten, Oberschüler und Business-to-business-Leute.
Die Vorteile für B2B zeichnen sich eben am deutlichsten ab: daß
sich die Produktionslogik umdreht. Bisher mußte ich, um Informationen
zu verteilen, eine große Druckerei beauftragen, tonnenweise Papier
zu lagern und zu drucken. Dazu brauche ich ein Logistik-System, um es
unter die Menschen zu bringen. Und im Internet lege ich einfach nur
eine PDF-Datei irgendwo hin und derjenige, der es lesen will, liest
es und der es drucken will, druckt es sich selbst aus. Das ist der eigentlich
revolutionäre Punkt.
Medien Tenor: Sie planen als Leiter der Forschungsgruppe Internet-Wahlen,
bei der Kommunalwahl in Niedersachsen im September 2001 in mehreren
Gemeinden die Stimmabgabe per PC und Internet möglich zu machen.
Was genau hätte die Web-Wahl mit der Forderung nach mehr Demokratie
im Internet zu tun, ist sie doch zunächst nur eine virtuelle Umsetzung
des Urnengangs?
Dieter Otten: Es ist keine glatte 1-1-Umsetzung, es kommen ein paar
Features hinzu, die das Wählen attraktiver machen. Wir drehen die
Argumentation um. Diejenigen die Internet haben, das sind immerhin 15
Prozent der Bevölkerung: Warum sollen die es nicht nutzen dürfen,
wenn man auch Briefwahl nutzen darf?
Medien Tenor: Sie streben also nicht an, das Wählen insgesamt attraktiver
zu machen? Schließlich spricht man ja gerade der Surfer-Generation
eine handfeste Politik-Verdrossenheit zu.
Dieter Otten: Wir haben in der Wahlsoziologie ein Problem mit der Briefwahl,
die ständig zunimmt. Bei der Oberbürgermeister-Wahl in Köln
gab es Bezirke, in denen mehr Leute per Brief gewählt haben als
an der Urne. In der Schweiz gibt es Kantone, in denen 80 Prozent der
Wähler das Brief-Medium nutzen. Demzufolge werden natürlich
die mobilsten Teile der Bevölkerung auf das Internet als Wahl-Medium
besser zurückgreifen als auf die Briefwahl, weil man es sich bis
auf die letzte Sekunde überlegen kann. Zweitens wollen wir ja nicht
nur die Wahl vom heimischen PC aus durchführen, sondern von jedem
Kiosk in der ganzen Republik. Stimmlokal, zu Hause, Bankautomaten, in
der Schalterhalle der Deutschen Bahn. Völlig egal. Das bedeutet,
daß jeder über ein elektronisches Medium wählen kann,
auch wenn er gar keinen PC hat. Damit bekommt die Mobilisierung zur
Wahl eine andere Bedeutung, z.B. könnte man innerhalb von einer
Woche eine Volksabstimmung durchführen.
Medien Tenor: Sie planen, nachdem Ihr Konzept das Wohlgefallen einer
indischen Delegation gestoßen ist, ein Pilotprojekt in Indien?
Dieter Otten: Wir haben einen Kontakt in den indischen Bundesstaat Kerala.
Dort könnte das elektronische Wählen eine große Bedeutung
erreichen. Künftig könnten eben auch illiterate Menschen über
einen Scan des Fingerabdrucks wählen gehen.
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