Daniel Sturm
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Virtuelle Schubladen
Ministerien enttäuschen im digitalen Test - sie scheuen den Dialog und die Bürgernähe ohne Barrieren
Media Tenor-Forschungsbericht, 8. Jahrg. Nr. 109, 15. Juni 2001

Von Daniel Sturm

Größere Transparenz hatten sich Demokratie-Theoretiker von der Verbreitung des Internets versprochen. So sind im Chat gewissermaßen alle Menschen gleich. Ideale Voraussetzungen also für einen Versuch, die bürgernahe Demokratie im Web auszuprobieren. Der digitale Regierungstest des Medien Tenor ergibt allerdings ein enttäuschendes Bild. Auf den Webseiten des Kabinetts stauen sich die Informationen - und übersetzen damit den in Stahlschränken gehüteten Informationsreichtum der Ministerien 1:1 in die virtuelle Welt. Immerhin stellt das Auswärtige Amt jede Menge Formulare auf der Webseite bereit und Minister Joschka Fischer chattet auch am meisten. Insgesamt aber passiert interaktiv zu wenig. Das Kabinett verlegt sich lieber auf "bürgerferne" Auftritte in Zeitungen und Fernsehen.

Getestet wurden in dem Benchmark (vergleichende Bewertung) unter anderem Qualitätskriterien wie Aktualität, Übersichtlichkeit des Angebots, Informations-Tiefe, Interaktionsgrad sowie Abrufbarkeit von längeren Dokumenten. Die Höchstpunktzahl, die eine Webseite in den drei Testfeldern Benutzerfreundlichkeit, Interaktivität und Information erreichen konnte, betrug jeweils 100 Punkte, so daß ein völlig untadeliges Angebot am virtuellen Kabinetts-tisch auf maximal 300 Punkte kommen konnte. Der Medien Tenor legte zugege-benermaßen einen harten Maßstab an. So bekam ein Ministerium einen Minuspunkt, wenn es nicht direkt über die allgemein bekannte Bezeichnung angesurft werden konnte. Wer im Browser z. B. www.verteidigungsministerium.de eintippt, landet auf der Homepage eines Dienstes, der pikanterweise Wehrdienstverweigerer berät.

Mit 188 von 300 maximal möglichen Punkten belegen Wirtschafts- und Außenministerium den ersten Platz in der Gesamtbewertung. Ausschlaggebend ist die benutzerfreundliche Gestaltung der Auftritte. Wenngleich beide Angebote illustrative Elemente oder Fotos missen lassen, beherzigen sie zumindest die ästhetischen Standards der Gestaltung mit zwei- bzw. dreispaltigen Layouts und übersichtlicher Navigation. Otto Schilys Innenministerium läßt den Nutzer noch selbst im Navigationsbereich hin- und herscrollen und befindet sich somit rein optisch in der Web-Steinzeit. Schon eher anregend ist das Konzept des Verteidigungsministeriums, die Nutzer mit bunten Bildern durch die Welt der Bundeswehr zu leiten. Informationen werden eigentlich in fast allen Ministerien recht unvergnüglich präsentiert - besonders statisch beim Finanzminister, dessen Webseite wie eine riesige virtuelle Schublade wirkt, in der es noch die geringste Information nur per Download zu bekommen gibt.
Ausnahmslos schwach präsentieren sich die Ministerien im Bereich "Interaktivität". Die Möglichkeiten des Chats werden allenfalls sporadisch genutzt. Über ein regelmäßiges Chat-Forum, in dem von Tag zu Tag einer der zahlreichen Ministeriums-Mitarbeiter die Debatten moderieren könnte, verfügt keine der getesteten Webseiten.

Insgesamt scheinen die Politiker den hierarchiefreien Kontakt zum Bürger eher zu scheuen. Stattdessen tendieren sie nach wie vor dazu, das Volk "von oben" zu betrachten, und wenn nicht von der Regierungs- oder Oppositionsbank, dann eben über die Bild-Zeitung. So war sich Bundesfinanzminister Hans Eichel im Wonnemonat Mai nicht zu schade für ein Gastspiel als Chef bei Bild. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz bestimmte beim Tagesspiegel gar über den Leitartikel. Auch der Grünen-Vorsitzende Fritz Kuhn tauschte die Rolle und gastierte beim Br. N24-Chefredakteur Peter Limbourg war derweil kurzzeitig Chef der Grünen-Bundestagsfraktion. So schien es angebracht, daß Bundespräsident Johannes Rau bei der Berliner Veranstaltung "Rollentausch Medien und Politik" am 30. Mai vor einem zunehmenden Drang zur medialen Inszenierung in der Politik warnte.

Mit einer stärkeren Nutzung der Dialog-Formen des Internets ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einerseits könnte mit der offenen und barrierefreien Art des Internets (z. B. Chat) demokratische Kultur viel eher gepflegt werden als mit Hinterzimmer-Politik. Andererseits würden die Homepages des Bundeskabinetts we-sentlich an Attraktivität und Zulauf gewinnen - und damit viele verloren geglaubte Wähler hinterm Ofen der Politikverdrossenheit hervorlocken.