Berichte aus den Baumkronen
Kreuzer, März 2001
Was spielt sich in den Baumkronen des tropischen
Urwalds ab? Um das zu erfahren, kam der Botanik-Professor Wilfried Morawetz
auf die Idee, einen gewöhnlichen Baukran mitten in den Amazonas
zu stellen. Nach 5 Jahren Forschung im Amazonas hat der Professor nun
den Kran in den Leipziger Auewald verlegt, wo er zehn Jahre lang der
Forschung dienen soll.
KREUZER: Herr Professor Morawetz, was steckt hinter
dem Projekt "Auewald-Kran"?
Morawetz: Wir haben vor sechs Jahren am oberen Orinoco in Venezuela
einen Kran auf Schienen gebaut mit dem Ziel, die Kronenfauna- und flora
zu erforschen. Über den tropischen Wald selber weiss man ja schon
etliches, aber was in den Kronen wirklich passiert, weiss niemand so
genau.
KREUZER: Wie aufregend ist das Leben in den Baumspitzen?
Morawetz: Sehr. Es hat sich bestätigt, dass sich dort der Großteil
des Lebens im Wald abspielt. In den Tropen ist zu sehen, wie Lianen
in den Kronen wachsen, Blüten, Ameisen oder wie Bäume untereinander
in Konkurrenz treten. Einen Brüllaffen oder einen kleinen Säuger
haben wir auch schon mal beobachtet. Es ist voll mit Leben da oben.
KREUZER: Sind Sie der erste Forscher, der in die Baumkronen steigt?
Morawetz: Es gibt schon seit den 50er Jahren Versuche, in die Kronen
hereinzukommen, mit Türmen, Leitern, Ballons oder Seilbahnen, aber
das hat immer den Nachteil, dass man nur auf eine Baumkrone fixiert
ist und nie den gesamten Wald erkennen kann. Wir waren die ersten, die
im Amazonas-Tiefland dreidimensional einen ganzen Hektar abfahren konnten.
Ausserdem läuft das Ganze ohne jede Zerstörung.
KREUZER: Wie funktioniert der Kran?
Morawetz: Das ist ein 40 Meter hoher Baukran, der auf Schienen steht
und einen beweglichen Arm mit einer Gondel hat, von der aus man per
Fernsteuerung nach Belieben alle gewünschten Orte in der Baumkrone
anfahren kann. Wenn ich eine Blüte sehe, die mich interessiert,
kann ich bis auf zehn Zentimeter Nähe heranfahren.
KREUZER: Stört der Kran die Tiere nicht?
Morawetz: Das war die erste interessante Erfahrung: die haben den Kran
in ihrer Evolution nicht eingeplant - sie kennen ihn schlichtweg nicht.
So kann man sich mit der Gondel Vögeln unbemerkt bis auf zehn Meter
nähern, die normalerweise eine Flugdistanz von 50 Metern haben.
Das trifft auch auf Insekten, Reptilien und Affen zu. Der Kran ist ausserdem
so lautlos, dass er gar nicht stören kann. Man schwebt wie auf
einem Luftkissen.
KREUZER: Wer hat das Kran-Projekt bisher finanziert?
Morawetz: Begonnen hat es 1988 an der Universität Wien. Von dort
bin ich zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewechselt,
die ein Großteil des Projektes bezahlt hat, den Rest finanzierte
die Universität Leipzig. Die venezuelanische Regierung hat das
Grundstück zur Verfügung gestellt. Das Projekt im Auewald
wird vom Leipziger Umweltforschungszentrum (UFZ) getragen.
KREUZER: Nach Venezuela fühlten Sie sich in Leipzig also einsam
ohne den Kran und bauten ihn im Auewald wieder auf?
Morawetz (lacht): Ganz so ist es nicht. Es liegt ja auf der Hand, dass
man auch in der Nähe beobachtet, was los ist. Wahnsinnig viele
Fragen sind bei uns auch noch unbeantwortet. So erwarten wir uns sehr
viele Erkenntnisse über Tier-Pflanzen-Interaktionen: Ameisen, Fraßschädlinge,
Käfer, Fledermäuse und vor allem die ganze nächtliche
Tierwelt. Wir werden die genetischen Strukturen des Waldes erkunden.
Was ist ein Auewald eigentlich wert? Bisher wurden Messungen immer im
Glashaus geführt, was überhaupt nicht die Realität wiedergibt.
Vermutlich wird sich herausstellen, dass der grüne Gürtel
lebensnotwendige Kapazität einer Großstadt ist.
KREUZER: Was kostet das Projekt?
Morwaetz: Wir sind in den ersten drei Jahren mit 700.000 DM ausgestattet,
ausschließlich der Arbeitsgruppen mit rund 50 Forschern, die noch
Drittmittel einwerben müssen. Das Projekt soll zehn bis 15 Jahre
laufen. Wenn es das Wetter zulässt, wird der Kran rund um die Uhr
in Betrieb sein.
KREUZER: Wird es Bilder aus den Baumkronen geben?
Morawetz: Wir haben mit Filmen über das Venezuela-Projekt weltweit
35 Millionen Zuschauer erreicht, ein ganz guter Einstieg. Diese Resonanz
wird der Auewald nicht haben, aber wir sind mit einer Münchner
Filmproduktionsfirma im Gespräch. Wir hoffen auf eine regelmässige
Berichterstattung aus den Baumkronen.
INTERVIEW: DANIEL STURM
Kran und Forschungsstation stehen in der Burgaue des Leipziger Auewalds