Daniel Sturm
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Wenn das Joschka wüßte
Als der grüne Außenminister am 16. September auf dem Augustusplatz redete, spielte der ukrainische Straßenmusiker Mischa Santana - und wurde verhaftet.
Kreuzer, Dezember 1999

Es klingt wie der allerneueste Treppenwitz der Geschichte: während Joschka Fischer auf dem Augus-tusplatz das Prinzip der multikulturellen Gesellschaft erklärte, wurde keine hundert Meter weiter der ukrainische Straßenmusiker Mischa Gudenko verhaftet.

Im Schlepptau mit dem grünen Prinzip der Weltoffenheit kamen an jenem 16. September Beamte in Grün, deren Auftrag mit Multikulti nicht viel zu tun hatte. Im Sachsenwahlkampf mußten sich die Polizisten um die Sicherheit von gleich drei Spitzenpolitikern kümmern: Gregor Gysi, Guido Westerwelle und Joschka Fischer.

Unbeeindruckt vom Politzirkus zupfte derweil Mischa Gudenko seine Gitarre. Ein Straßenmusiker - welcher Beamte würde da nicht sofort Verdacht schöpfen? Ausweiskontrolle - und schon durfte Mischa seinen geliebten San-tana nur noch im Gefängnis zupfen. Bei einem Ausländer ohne gültigen Ausweis sehen die Behörden üblicherweise die Gefahr des Untertauchens. Dass der stadtbekannte Musiker jedoch bereits zwei Jahre ohne Visum Django Reinhard gespielt hatte, öffentlich und also vor dem Auge des Gesetzes - hielt die Behörden nicht davon ab, eine Abschiebehaft anzuordnen.

Untertauchen aber kommt für Gudenko, dem die Hochschule für Musik und Theater 1998 den Sonderpreis für die beste Improvisation verlieh, nicht in Frage. Denn sein Geld verdient er nicht in dunklen Spelunken, sondern auf offener Straße.

"Gesetz ist Gesetz, aber Musiker müssen frei sein", forderte eine Freundin des verhafteten Künstler und erinnerte an die blühende Künstlerszene im Leipzig der Jahrhundertwende, als Europa noch durchlässig war.

Wie zur Auffrischung der verblassenden Erinnerung stieg am 19. Oktober ein Benefizkonzert für Gudenko, ein Ukrainer röhrte traurig "Baikal" ins Mikrophon, ein Peruaner sang "La Cocaracha" und eine bunt gemischte Gruppe hielt die Sehnsucht nach einem vereinigten Europa bis tief in die Nacht mit Santana taufrisch. Seit dem Schengener Abkommen von 1993, das den eisernen Vorhang durch massive Grenzkontrollen ersetzt hat, bekommen viele Osteuropäer nur unter großen Schwierigkeiten ein Visum - und wenn, dann gerade mal für drei Monate.

Während Mischa schon bald nach seiner Verhaftung mit Zustimmung des Gefängnispfarrers in der Kapelle den Organisten gab, sammelten seine Freunde Geld für den Fall der Fälle. Denn eine Abschiebung in die Ukraine würde den 37jährigen teuer zu stehen kommen. Nicht nur, dass er dort als Fremder behandelt wird - sein Vater lebt in Hamburg, und die Gudenkos müssen als Zigeuner in der Ukraine bei allen Behördengängen mit Diskriminierung rechnen - sondern er muß sich selbst auf eine kafkaeske Situation einstellen.

Denn während sich Kafkas Romanheld im "Prozeß" nur ausmalt, er müsse am Ende noch die Henkerarbeit den Behörden abnehmen, müssen Ausländer für ihre für Haft, Abschiebung und Dolmetscher oft selbst bezahlen. Der Soziologe Jörg Alt zieht in einem Forschungsprojekt über Illegale in Leipzig eine kritische Bilanz. Seit dem Schengener Abkommen werde versucht, "die entstehenden Kosten soweit als möglich dem Schübling in Rechnung zu stellen. Ist dies bei der Abschiebung nicht möglich, so ist eine weitere Möglichkeit der Rückerstattung dessen Wunsch, erneut einreisen zu wollen: Vor Erteilung eines neuen Visums wird dann verlangt, dass er die von ihm beim Voraufenthalt 'verursachten' Kosten begleicht." (siehe Rezension).

Stojan Gugutschkov, Ausländerbeauftragter der Stadt Leipzig, weiss gar von der behördlichen Praxis, einen Abgeschobenen mit einer Einreisesperre zu belegen. "Der Mann hätte keine Chance, wenn seine Abschiebung mit einem Einreiseverbot von zehn Jahren versehen würde."

Da sich aber viele Illegale einen sechswöchigen Aufenthalt im Gefängnis nicht leisten können, kommt die Abschiebepraxis Vater Staat teuer zu stehen. Für die "Rückführung" von 229 Ausländern investierten die sächsischen Ausländerbehörden 1997 annähernd 90.000 DM, 56.281 DM nur für Abschiebung und 32.739 DM für Dolmetscher. Da sich die meisten Abgeschobenen aber meist schon sehr bald wieder in das Land, in dem sie Arbeit gefunden haben, aufmachen, kann man dieses absurde Hin und Her mit gutem Recht als die bundesdeutsche Antwort auf ein vernünftiges Einwanderungsrecht bezeichnen. Dabei sind die Bedingungen für beide Seiten ausgesprochen unerquicklich: der Immigrant bezahlt ein Jahresgehalt an eine kriminelle Schleuserbande und das sächsische Innenministerium rekrutiert wie früher, als es um die Bewachung des antifaschistischen Schutzwalls ging, Männer in Uniform zur Sicherung der heute deutsch-polnischen Grenze.

"Wenn Joschka Fischer wüßte, was er mit seinem Besuch angerichtet hat", sinniert Jochen Läßig, der Mischa Gudenko vor Gericht vertritt. Der prominente Bürgerrechtler, der 1994 auch für das Amt des Oberbürgermeisters kandidierte, will den Fall Gudenko seinem großen Parteifreund allerdings nicht aufs Brot schmieren, solange nicht alle rechtlichen Wege ausgeschöpft sind. Als Anwalt steht Läßig fast allein auf weiter Flur, denn im Ausländerrecht sind die Spielräume klein und die Einnahmen noch kleiner. Weil von den Mandanten nicht viel Geld zu erwarten ist, tummeln sich in diesem Feld nur wenige Juristen.

Karin Pergold vom Leipziger Verband binationaler Familien und Partnerschaften nimmt oft bei Fortbildungsseminaren im Ausländerrecht teil: "Da war noch nicht ein ostdeutscher Rechtsanwalt, und die Anwälte aus dem Westen sagen zu mir, haben Sie wieder keinen mitgebracht, was haben Sie denn da für Rechtsanwälte, da drüben?"

Vor Gericht argumentierte Läßig: Mischa Gudenko sei so bekannt, dass er nicht so einfach untertauchen könne. Eine Abschiebehaft sei deshalb nicht erforderlich, weil Gudenko seiner Abschiebung durch freiwillige Ausreise zuvorkommen werde. Außerdem zitierte er den Vizechef von MDR-Kultur, Andreas Höll, der dem Musiker ein sehr gutes Zeugnis ausstellte. Für den Konzertmanager Fred Stöhr, der als Zeuge auftrat, lag der Fall glasklar: "Mischa hat weder gestohlen, gebettelt noch geklaut." Einmal entzogene Freiheit könne man nicht nachholen, die sei unwiderruflich durchs Gefängnis verloren. Als die Richterin ihn danach fragte, ob er denn die Transportkosten für die Reise in Mischas Heimat übernehmen werde, antwortete Stöhr: "Und sogar die Kosten für die Rückreise!"

Die Argumente überzeugten die Richterin - seit 26. Oktober ist Mischa Gudenko frei. Jetzt dreht sich alles um die so genannte "Grenzübertrittsbescheinigung", die Mischas legale Ausreise bescheinigt und ihm den Weg für eine ebenso legale Wiedereinreise offen hält. Im ersten Moment wirkte Mischa selbst fast ein wenig traurig darüber, dass er so überraschend entlassen wurde: "Ich hatte denen im Gefängnis doch fest ein Konzert versprochen!"

DANIEL STURM