Und ewig lacht der Funktionär.
Kreuzer, November 1999
Sylvia Kabus: Dr. A. bittet um Endlospapier.
Psychogramme einer deutschen Stadt. Forum Verlag Leipzig 1999, 165 Seiten.
Es wäre spannend herauzufinden, ob Sten Nadolnys
Entdeckung der Langsamkeit von einem Aufenthalt in der ehemaligen DDR
inspiriert wurde. Wahrscheinlich nicht. "Wir dünkten uns wesentlicher
zu sein als der Westen", bekennt Sylvia Kabus in ihrem Buch Dr.
A. bittet um Endlospapier. Wir - das ist die Sicht einer Icherzählerin,
die in sechs Psychogrammen das Leben von Menschen in Leipzig beschreibt,
für die unvorstellbar war, "sich nicht als hochempfindlichen
Teil dieses vertrauten und widersinnigen Organismus zu empfinden".
Der autobiographische Ansatz der Autorin ist umso bemerkenswerter, als
sich die meisten Kulturschaffenden für eine kritische Selbstanalyse
nach 89 keine Zeit nahmen - und sie bis an ihr Lebensende auch kaum
mehr aufbringen werden.
Um es vorweg zu sagen: das Buch hat gedanklichem thrill, weil es dem
verflossenen Charme, den die DDR ja auch auf viele westdeutsche Linke
ausstrahlte, psychologisch präzise auf den Grund geht. Während
die Langsamkeit bei Nadolny noch den Ruch des Utopischen trägt,
erlebt Kabus sie rückblickend als Dehnung der Zeit in Stalkerscher
Qualität. Einer wie Nadolny konnte sich das nur romanhaft ausmalen,
weil er die wirkliche, die stalkersche Zone noch nie wirklich betreten
hatte. Für Sylvia Kabus war die Zone so etwas wie ein real existierender
Menschenpark, indem die Insassen bewußt kleingehalten wurden,
um auch ja keine anderen Regungen als das Weiterso aufkommen zu lassen.
Hier funktionierten selbst die vorgeblichen Freiräume, etwa das
Kabarett Academixer, wie Rädchen im Getriebe: "je dusseliger
die Szenen aus dem kleingehaltenen Alltag sind, umso lieber und wie
verwandt sind uns die Spieler, und eine Anhänglichkeit wächst,
so könnte es ewig weitergehen".
Die aktuellen Wahlergebnisse und auch die Programme der Leipziger Kabaretts
zeigen heute recht eindringlich, daß es für viele sogar noch
weitergehen konnte, nachdem die DDR äußerlich längst
Schiffbruch erlitten hatte. Daß also die Geschichte der DDR in
diesem Sinne nicht abgeschlossen ist, scheint überhaupt das Aufschlußreiche
an diesem Buches zu sein, das die Produkte des Übergangs genauer
unter die Lupe nimmt. Der gesamtdeutsche Antisemitismus war ja auch
nicht einfach verpufft, als das Nazireich zu Ende ging. Er nahm nur
langsam andere Formen des Rassismus an, vergleichbar mit den Produkten
radioaktiver Zerfallsprozesse.
Was ist von der DDR geblieben? Sylvia Kabus skizziert am Beispiel Leipzigs,
wie sich im Einigungsprozeß all jene als westkompatibel erwiesen,
die sich schon zu DDR-Zeiten "ein starkes Geführtsein als
Lebensmodell" erhofften. Eine Schicht von Beamten, Verwaltern und
Funktionsträgern im Dunstkreis der Niklolaikirche, die Kabus respektlos
als "Heldenatrappen" bezeichnet. Ihr Buch räumt deshalb
den wahren Helden des Herbstes 89 viel Platz ein und gibt zu Bedenken,
daß fast alle dieser Oppositionellen nach wie vor fern von den
Schaltstellen gesellschaftlicher Macht agieren. "Was für ein
Zeichen ist ihr Verschwinden in Krankheit, im Vergessen, in ärmlichen
Vereinsbüros, in späten Studiengängen, im Zerstörtsein,
in der Suche"?
DANIEL STURM