Daniel Sturm
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Und ewig lacht der Funktionär.
Kreuzer, November 1999

Sylvia Kabus: Dr. A. bittet um Endlospapier. Psychogramme einer deutschen Stadt. Forum Verlag Leipzig 1999, 165 Seiten.

Es wäre spannend herauzufinden, ob Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit von einem Aufenthalt in der ehemaligen DDR inspiriert wurde. Wahrscheinlich nicht. "Wir dünkten uns wesentlicher zu sein als der Westen", bekennt Sylvia Kabus in ihrem Buch Dr. A. bittet um Endlospapier. Wir - das ist die Sicht einer Icherzählerin, die in sechs Psychogrammen das Leben von Menschen in Leipzig beschreibt, für die unvorstellbar war, "sich nicht als hochempfindlichen Teil dieses vertrauten und widersinnigen Organismus zu empfinden". Der autobiographische Ansatz der Autorin ist umso bemerkenswerter, als sich die meisten Kulturschaffenden für eine kritische Selbstanalyse nach 89 keine Zeit nahmen - und sie bis an ihr Lebensende auch kaum mehr aufbringen werden.

Um es vorweg zu sagen: das Buch hat gedanklichem thrill, weil es dem verflossenen Charme, den die DDR ja auch auf viele westdeutsche Linke ausstrahlte, psychologisch präzise auf den Grund geht. Während die Langsamkeit bei Nadolny noch den Ruch des Utopischen trägt, erlebt Kabus sie rückblickend als Dehnung der Zeit in Stalkerscher Qualität. Einer wie Nadolny konnte sich das nur romanhaft ausmalen, weil er die wirkliche, die stalkersche Zone noch nie wirklich betreten hatte. Für Sylvia Kabus war die Zone so etwas wie ein real existierender Menschenpark, indem die Insassen bewußt kleingehalten wurden, um auch ja keine anderen Regungen als das Weiterso aufkommen zu lassen. Hier funktionierten selbst die vorgeblichen Freiräume, etwa das Kabarett Academixer, wie Rädchen im Getriebe: "je dusseliger die Szenen aus dem kleingehaltenen Alltag sind, umso lieber und wie verwandt sind uns die Spieler, und eine Anhänglichkeit wächst, so könnte es ewig weitergehen".

Die aktuellen Wahlergebnisse und auch die Programme der Leipziger Kabaretts zeigen heute recht eindringlich, daß es für viele sogar noch weitergehen konnte, nachdem die DDR äußerlich längst Schiffbruch erlitten hatte. Daß also die Geschichte der DDR in diesem Sinne nicht abgeschlossen ist, scheint überhaupt das Aufschlußreiche an diesem Buches zu sein, das die Produkte des Übergangs genauer unter die Lupe nimmt. Der gesamtdeutsche Antisemitismus war ja auch nicht einfach verpufft, als das Nazireich zu Ende ging. Er nahm nur langsam andere Formen des Rassismus an, vergleichbar mit den Produkten radioaktiver Zerfallsprozesse.

Was ist von der DDR geblieben? Sylvia Kabus skizziert am Beispiel Leipzigs, wie sich im Einigungsprozeß all jene als westkompatibel erwiesen, die sich schon zu DDR-Zeiten "ein starkes Geführtsein als Lebensmodell" erhofften. Eine Schicht von Beamten, Verwaltern und Funktionsträgern im Dunstkreis der Niklolaikirche, die Kabus respektlos als "Heldenatrappen" bezeichnet. Ihr Buch räumt deshalb den wahren Helden des Herbstes 89 viel Platz ein und gibt zu Bedenken, daß fast alle dieser Oppositionellen nach wie vor fern von den Schaltstellen gesellschaftlicher Macht agieren. "Was für ein Zeichen ist ihr Verschwinden in Krankheit, im Vergessen, in ärmlichen Vereinsbüros, in späten Studiengängen, im Zerstörtsein, in der Suche"?

DANIEL STURM