"Der Affe im Zoo ist teurer"
Ein Interview mit dem Boss des bundesweit
größten Arbeitslosenprojektes in Leipzig, Matthias von Hermanni.
Kreuzer, Februar 1999
Von Daniel Sturm
Sie machen sauber, reißen ab, und bauen
auf - fast wie die Heinzelmännchen. 25000 Leipziger haben seit
1991 den Betrieb für Beschäftigungsförderung (bfb) durchlaufen.
Der Boss des bundesweit größten Arbeitslosenprojektes ist
Matthias von Hermanni. Mit der Verpflichtung aller arbeitsfähigen
Sozialhilfeempfänger zur Arbeit im "Betrieb" hat er Leipzigs
Kassen auf Dauer entlastet, und den schwarzen Peter an den Bund zurückgegeben.
Seitdem reichen sich Deutschlands Kommunen bei Hermanni die Klinke.
Ein Interview mit dem "Cleverle".
KREUZER: Wie kommt es, daß Sie so ein großes
Medienecho in Deutschland, und so ein kleines in Leipzig haben?
Hermanni: Der Prophet gilt im eigenen Land nichts. Andererseits ist
das ganz befriedigend: Das politische Leipzig hat sich in der Zwischenzeit
so sehr an das gewöhnt, was wir tun, daß es normal geworden
ist. Das ist es aber objektiv in ganz Deutschland nicht. Wir sind heute
die einzige Großstadt in Deutschland, die in der Lage ist, jedem
Hilfeempfänger im arbeitsfähigen Alter Arbeit anzubieten.
KREUZER: Ist der bfb eine Übergangserscheinung zwischen Sozialismus
und Kapitalismus?
Hermanni: Wir sind auf dem Weg in eine Dienstleistung- und Bildungsgesellschaft.
Alle wissen, daß wir einen bestimmten Personenkreis nicht in diese
Entwicklung mitnehmen können. Der Anteil dieser Gruppe wird dauerhaft
eher wachsen. Dabei sage ich nicht, daß diese Personen dumm sind.
KREUZER: Und für diese Personen ist der bfb da?
Hermanni: In Leipzig ja. Was wir überall brauchen, ist eine gesellschaftspolitische
Lösung. In München kann das ganz anders aussehen. Ich will
nur mal umreißen, was der Münchner Soziologe Ulrich Beck
sagt - ein super Bild für Westdeutschland. Ich gehe morgens Tennis
spielen, mittags kassiere ich meine Mieter ab und abends schenke ich
unter dem Stichwort "Bürgerarbeit" für Arme das
Essen aus. Geht in Ostdeutschland nicht auf, weil das mit den "Mietern
abkassieren" nicht klappt, wegen der Vermögenssituation.
KREUZER: Wer sind "die Personen" beim bfb?
Hermanni: Ein Beispiel: Ein extrem Dicker wird in unserer Gesellschaft,
die sehr von den Medien geregelt wird, keinen Platz finden. Oder einer,
der 1990 mit den langen DDR-Ansprüchen gestartet ist, durch eine
Reihe von ABM-Maßnahmen gegangen ist, nun alle Ansprüche
aufgefrühstückt hat und dann in die Sozialhilfe abgerutscht
ist. 70 Prozent ausschließlich wegen Arbeitslosigkeit. Keine anderen
Faktoren. In Westdeutschland waren das mal 10 Prozent in den 60er Jahren.
Wegen der Wiedervereinigung sind alle Reformansätze politisch verschüttet
worden. Heute sind wir an dem Punkt, wo wir vor zehn Jahren waren. Jetzt
müssen Entscheidungen her.
KREUZER: Welche Entscheidungen?
Hermanni: Wir müssen versuchen, das Sozialversicherungssystem zu
stabilisieren. Denn alle, die in unserer Gesellschaft was zu sagen haben,
haben sich aus der Sozialversicherung verabschiedet. Diätenempfänger,
Selbständige, Beamte. Ich selber bin Beamter. Ich bin mein Leben
lang geschützt vor Arbeitslosigkeit und zahle nicht eine müde
Mark Arbeitsmarktabgabe. Es wäre nur gerechtfertigt, daß
alle mit einzahlen.
KREUZER: Stoßen Sie damit bei Ihren verbeamteten Kollegen auf
Zustimmung?
Hermanni: Nein. Konsens ist nur, daß alle im Schützengraben
sitzen und versuchen, möglichst viel für sich herauszuholen.
Das ist nicht in Ordnung!
KREUZER: 1991 war nicht absehbar, daß Sie einmal der größte
Arbeitgeber in Leipzig würden. Wurden Sie nicht von den Entwicklungen
überrollt, schließlich sollte der bfb anfangs nur eine Brücke
in "blühende Landschaften" bilden...
Hermanni: Das war nicht beabsichtigt, aber wir haben gewußt, was
wir tun. Wir waren sehr viel vorsichtiger mit dem Stichwort "blühende
Landschaften". 1994 war eine Zeit, wo wir mit Kopf und Bauch auseinander
waren. Mit dem, was öffentlich erklärt und was wir unten erlebt
haben. Von den Wirtschaftsgutachtern haben wir Zuwachsraten von 10 bis
15 Prozent serviert bekommen, wo wir vom Bauch her ein ganz anderes
Gefühl hatten.
KREUZER: Wie reagieren Sie denn heute, wenn Sie den Direktor des Instituts
für Wirtschaftsforschung (IWF) in Halle sehen?
Hermanni: Ja, der Herr Pohl. Mich wundert da immer, wie die Medien auf
seine Vorhersagen eingehen. Der sitzt da auf einer Dauer-ABM und muß
immer das erklären, was sich die jeweilig Regierenden so wünschen.
Natürlich "völlig unabhängig", ist ja klar.
Wir waren da vorsichtiger. Wir haben 1996 sehr genau gesehen, welchen
Anforderungen wir 1998 gewachsen sein müssen.
KREUZER: Sie sind CDU-Mann. Haben Sie wegen Ihre Kontakte nach Bonn
die Glocke läuten hören, daß es mehr Gelder für
ABM geben würde? Im Laufe von nur sechs Monaten haben sich die
Mitarbeiterzahlen des bfb von 4000 auf fast 8000 verdoppelt!
Hermanni: Nein, das war Berufs- und Lebenserfahrung.
KREUZER: Sie können wohl kaum - wie andere Betriebsleiter - auf
die Zahl Ihrer Beschäftigten stolz sein, oder?
Hermanni: Es gibt da verschiedene Facetten. Einerseits sind wir nicht
stolz, andrerseits können wir 8000 Menschen helfen. In soweit ist
es schon ein Stückchen Befriedigung, schließlich ist es eine
unternehmerische Leistung. Die neue Bundesregierung will eine "Verstetigung"
der ABM-Politik. Das heißt für uns im Klartext: wir sind
jetzt vom Höchststand des Jahres 1998 abgeschmolzen und beschäftigen
derzeit "nur" noch 7000 Menschen. Es werden mehr Menschen
arbeitslos als in den Vormonaten.
KREUZER: Der bfb wird größtenteils von Stadt, Arbeitsamt
und EU mit insgesamt 180 Mio. Mark finanziert. Dem steht eine Wertschöpfung
von 77 Mio. Mark gegenüber. Der bfb, neben Leipzigs Messe - ein
gigantischer Zuschußbetrieb?
Hermanni: Im letzten Jahr hat die Kommune einen Arbeitsplatz beim bfb
mit 3200 Mark subventioniert. Und wenn ich jetzt mal vergleiche: die
Planstelle vom Affen im Leipziger Zoo wird mit 4788 Mark deutlich höher
subventioniert. Und was die Messe angeht: Wir haben für 1998 zweitausend
Menschen zusätzlich beschäftigt, dafür bekam der bfb
eine Summe von brutto 3,4 Mio. Mark. Das entspricht - wie man aus den
Medien erfuhr - der Nettoabfindung von Frau Wohlfahrt, deren Abgang
als Vorsitzende der Leipziger Messegesellschaft mit 2 Mio. DM bezahlt
wurde.
KREUZER: Insgesamt gelangen Sie als Vertreter des "zweiten Arbeitsmarktes"
aber nicht über ein Herumdoktern an den Symptomen heraus. Denn
die Industrie liegt in Leipzig flach.
Hermanni: Wir haben es Anfang der 90er Jahre versäumt, Industrie
anzusiedeln. Damit fällt der Bereich industrienahe Dienstleistung
aus, im Gegensatz zu Dresden mit Siemens, AMG und Volkswagen. Wir werden
Probleme bekommen mit unseren Menschen, die in diesem Bereich qualifiziert
wurden. Die Spreizung der Gesellschaft wird 1999 noch zunehmen.
KREUZER: Angenommen, ein Leipziger bewirbt sich bei der gläsernen
Fabrik in Dresden, und legt sein bfb-Zertfikat in der Bewerbungsmappe
bei. Kriegt er den Job?
Hermanni: Ich glaube nicht, daß das allzu häufig passiert.
Nicht mit unserem Personenkreis. Die jungen, mobilen Menschen kommen
von hier relativ schnell unter. Gleichzeitig ist die Vermittlung der
über 45jährigen zusammengebrochen. Null.
KREUZER: Ungefähr jeder Dritte Leipziger, der dem bfb zugewiesen
wird, verweigert die Arbeit beim bfb. Stimmt das?
Hermanni: Ja. Die haben, wie wir sagen, einen "anderen Weg"
gefunden, Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Damit meine ich bei den
Jüngeren ganz überwiegend Schwarzarbeit und bei den alleinerziehenden
Frauen relativ häufig die Finanzierung über den Lebenspartner.
KREUZER: Wenn alle - auch die Beamten - einzahlen: Wäre dann die
Einführung eines gesicherten Existenzminimums, wie es die Grünen
fordern, nicht die sinnvollere Lösung?
Hermanni: Ja, aber die haben am Anfang dieses Bürgergeld damit
ausgestattet, daß sie gesagt haben: "ja, aber bitte nicht
arbeiten"! Das kann nicht richtig sein. Meine These ist: Jeder
zahlt von der ersten bis zur letzten Mark in die Sozialversicherungskasse.
Dann kann ich an einer Stelle alle sozialen Leistungen bündeln.
Dann habe ich auf der einen Seite den global kämpfenden ersten
Arbeitsmarkt - nach oben offen. Über meine Sozialversicherungskassen
bekomme ich, in einem deutlich abgesenkten Niveau - nicht mehr 42 Prozent,
sondern vielleicht 20 bis 25 Prozent - meine Abgaben. Und auf der anderen
Seite habe ich soziale Leistungen, mit der ich öffentliche Arbeit
anbieten kann. Die Leistungen verknüpfe ich und sage: "Okay,
du hast einen Anspruch auf Sozialhilfe, nun möchte ich auch deine
Arbeitskraft haben". Und dem Großverdiener des ersten Arbeitsmarktes,
die jährlich 50000 Mark einzahlt, biete ich eine entsprechende
Infrastruktur aus dem zweiten Arbeitsmarkt: für deine Tochter eine
vernünftige Schule, für deinen Sohn eine Kindertagesstätte
und für deinen Hund eine Grünanlage.
KREUZER: Das läuft dann auf eine Zweiklassengesellschaft hinaus.
Ist nach diesem Modell der bfb nicht eher ein Stigma, für das schlecht
qualifizierte Menschen schlecht bezahlt rackern müssen?
Hermanni: Wir sprechen nur über das Thema Geld. Dabei gibt es eine
ganze Menge weiche Faktoren: Das Gefühl, gebraucht zu werden, Wir-Gefühl,
keine Vereinsamung.
KREUZER: Müssen Sie die Leute nicht darauf vorbereiten, ein halbes
Leben lang auf Stütze zu leben?
Hermanni: Ja. Den älteren Frauen über 40 Jahren sage ich ganz
offen am ersten Tage, daß wir sie auf die nächste Arbeitslosigkeit
vorbereiten. Das Überraschende ist, daß die Menschen das
viel klarer sehen als unsere Politiker. Es macht mich richtig stolz,
wenn sich eine 48jährige Frau bei mir verabschiedet und sagt: "gemäß
Paragraph soundso muß ich jetzt soundsolange warten, und dann
kann ich wieder zugewiesen werden". Dann fängt sie nämlich
an, Ihre Rechte wahrzunehmen.
KREUZER: Dann ist der bfb für viele Endstation und nicht Durchlauf
zum besseren, ersten Arbeitsmarkt?
Hermanni: Ein Beispiel: Wir haben 40 Handwerker, die für uns arbeiten.
Im Sommer 1998 haben wir die Meister dieser Firmen zu einem Gespräch
mit Bundesarbeitsminister Blüm und Staatsminister Schommer eingeladen.
Und Schommer hat die Meister gefragt: Angenommen, die wirtschaftliche
Entwicklung ist wunderbar und ihr habt freie Stellen: wieviel Prozent
der Beschäftigten von Herrn Hermanni könntet ihr einstellen?
Darauf hin haben die gesagt: "Zehn Prozent". Und dieses deckt
sich mit der Selbsteinschätzung der Menschen, was ihre Zukunftserwartungen
betrifft. Es ist für mich ein Buch mit sieben Sigeln, weshalb die
Gesellschaft immer noch so tut, als ob eine gewisse Wachstumsrate irgendetwas
bewirken würde!
KREUZER: Der zweite Arbeitsmarkt, wenn Sie ihn auf Dauer wollen, bräuchte
aber doch eine gesellschaftliche Aufwertung. Ansonsten ist ein bfbler
ein Leben lang nur zweite Wahl.
Hermanni: Das sehe ich nicht so. Mittlerweile sind 25000 Leipziger durch
diesen Betrieb gegangen. Die haben sehr viel geputzt, aufgeräumt
und aufgebaut. Wenn aber etwas sauber ist, dann fällt hinterher
keinem auf, daß der Dreck weg ist. Wenn Sie aber die Stadtgüter
nehmen, wo wir was drauf bauen, wie z.B. den Campingplatz oder das Ökogut
Mölkau, dann treffen Sie sehr viele unserer ehemaligen Mitarbeiter,
die sich in hohem Maße mit dem Betrieb identifizieren. Da entwickelt
sich zur Zeit in unserer Stadt ein positiver politischer Einfluß,
der vom bfb ausgeht.
KREUZER: Was passiert, wenn alle Teiche entschlammt, alle Kindergärten
gestrichen, und alle Grünanlagen schön sind? Haben Sie eine
Vision für den bfb, wenn er seine bisherigen Aufgaben erfüllt
hat?
Hermanni: Ja: Das Themenfeld Landwirtschaft. Die hohe Förderung
durch die EU wird wegfallen und es wird unter dem Gesichtspunkt der
Ernährung andere Arbeitsfelder geben, in Richtung ökologischer
Landbau, Umweltschutz und Naherholung. Ich setze auf ein langfristiges
Güterkonzept. Die Stadt besitzt rund 10000 Hektar Ackerland und
da kann ich mir sehr gut vorstellen, daß dort nicht nur 15 Leute
arbeiten, sondern 1000 oder 2000.
KREUZER: Ist diese Vision auf ihren Mist gewachsen oder haben Sie das
mit Ex-Oberbürgermeister Lehmann-Grube ausgeheckt?
Hermanni: Dieses Bild ist eines, wo ich hoffe, daß Lehmann-Grube,
und auch der neue OB Tiefensee mitwirken werden. Es läuft jetzt
ganz gut. Wir werden bis 2000 die anderen Stadtgüter auch ans Netz
nehmen und wollen sie bis zur EXPO-2000 präsentieren. Wir sind
übrigens der älteste Traditionsbetrieb in Leipzig - Sie lachen!
KREUZER: Klar, Arbeitslosigkeit gibt es seit Beginn der industriellen
Revolution...
Hermanni: Nein, viel älter: Johannishospital, 13. und 14. Jahrhundert.
Die reichen Leipziger hatten damals ein Problem und wollten die Kranken,
Siechen und Bettler nicht mehr in der Stadt haben. Vor den Stadtmauern
haben sie alte Bauernhöfe, Stadtgüter, aufgekauft und das
Eigentum in den Nachjahren in eine Stiftung verwandelt. Diese Stiftung
hatte den Auftrag, die kranken und alten Menschen aufzunehmen und mit
ihnen zu arbeiten. Daraus ist St. Georg entstanden und der hohe Grundbesitz
der Stadt Leipzig ist vor allem dieser Vorgeschichte zu verdanken. Anders
gesagt: Der bfb ist nicht eine Erfindung aus den letzten Jahren, sondern
wir gehen nur auf die Wurzeln der letzten 500 Jahre zurück.
INTERVIEW: DANIEL STURM
Matthias von Hermanni, geboren 1954 in
Hildesheim, Diplom Verwaltungswirt, Stadtamtsrat bei der Landeshauptstadt
Hannover, seit 1985 Aufbau des ABM-Stützpunktes in Hannover mit
400 Beschäftigten, seit Frühsommer 1991 Aufbau des ABM-Stützpunktes
Leipzig (heute Betrieb für Beschäftigungsförderung) mit
derzeit 7000 Mitarbeitern. Arbeitsrichter am Arbeitsgericht, Aufsichtsrat-Mitglied
der Stadtwerke Hannover AG.