Ich will Täterin bleiben.
Kreuzer, November 1999
Aus dem Leipziger Stasi-Gefängnis hat
Katrin Hattenhauer eine Gabel mit der Aufschrift MfS mitgehen lassen.
Ein stiller Triumph, schließlich wollte sich die Dissidentin nie
das Heft aus der Hand nehmen lassen. Schon gar nicht von der Stasi.
Ein Portrait zehn Jahre danach.
Richtig angefangen hat die Schlitterpartie in
den Leipziger Stasi-Kerker im Oktober 1988. Katrin Hattenhauer, damals
gerade mal 20 Jahre alt, schloß sich dem Arbeitskreis Gerechtigkeit
an und beteiligte sich an einer Plakataktion in der Leipziger Nikolaikirche.
"Wir hatten uns nicht an kirchliche Absprachen gehalten".
Normalerweise mußte in der DDR noch der kleinste Versuch, Öffentlichkeit
jenseits des Rituals herzustellen, bis ins Detail abgesprochen werden.
Die Firma Horch und Guck, wie der Staatssicherheitsdienst im Volksmund
hieß, war überall - oder doch zumindest ihre Zuträger.
Aber Hattenhauer und ihre zehn Mitstreiter waren jung und hatten nicht
das Gefühl, noch etwas verlieren zu können. Auch auf die Betulichkeit
einiger Pfarrer, die sich im Schattenreich der DDR bequem eingerichtet
hatten, wollten die Dissidenten keine Rücksicht nehmen. Dennoch
waren sie auf die Kirchen als Orte angewiesen, um ihren Willen zur Veränderung
mit Publikum umzusetzen.
15. Januar 1989. Am 70. Todestag von Rosa-Luxemburg durchbricht Hattenhauer
das Schweigen und verteilt auf einer Gegen-Demonstration verbotenerweise
Flugblätter. 53 Aktivisten werden festgenommen. Die Stasi fordert
von der kirchlichen Leitung der Hochschule die Exmatrikulation der Dissidentin,
die dort bisher Theologie studiert hat. Seit ihrer Relegation bewegt
Hattenhauer sich nicht einmal mehr am äußersten Rand des
Erlaubten, und das macht der jungen Frau zu schaffen. Schließlich
will sie nicht als Radikale gelten, sondern nur das Blatt zum Guten
wenden. "Die Kirche hat sich von mir in einer existentiellen Situation
getrennt", sagt sie heute spitz. Daß ihr ausgerechnet ein
Lehrer der kirchlichen Hochschule den Haftbefehl aushändigt, erscheint
ihr im Nachhinein nur konsequent. In Untersuchungshaft der Stasi lernt
sie erstmals ihren Vernehmer kennen, mit dem sie es bis Oktober 1989
immer wieder zu tun bekommen wird.
Jetzt gilt Hattenhauer als Radikale. Langhaarig und asozial - das waren
die Attribute, die ihrer Umgebung zugeschrieben werden. Zum Arbeitskreis
Gerechtigkeit gehören Leute wie Jochen Läßig, der später
acht Jahre lang im Leipziger Stadtrat grüne Politik machen wird,
und der bärtige Rainer Müller, Mitgründer und bis heute
Aktivist im Neuen Forum. "Aber wir wollten nicht wie viele andere
unsere Ausreise in den Westen provozieren", betont Hattenhauer.
Heute versteht sie die übervorsichtige Haltung, mit der einige
Pfarrer und Kirchenmitglieder reagierten - offenbar aus Angst vor Diskreditierung
der mühsam erkämpften Friedensgebete durch Ausreisewillige.
Denn wer am Montag in die Nikolaikirche ging, ohne seit langen Jahren
Gemeindemitglied zu sein, machte sich dessen unfreiwillig verdächtig.
Die Friedensgebete, von den beiden Pfarrern Christoph Wonneberger (Lukaskirche)
und Christian Führer (Nikolaikirche) ins Leben gerufen, waren seit
1988 zur Institution geworden. "Die waren so mühsam hochgezogen,
fast wie ein Marketing-Objekt." Doch mit dem Image der Ausreise-Kirche
St. Nikolai wollen Hattenhauer und ihre Freunde nichts zu tun haben,
also initiieren sie am 27. August 1989 eine Veranstaltung in der "braven"
Leipziger Thomaskirche. Mit einer Fastenaktion wollen sie daran erinnern,
daß der DDR-Gesellschaft eine Reinigung gut tun würde. Doch
der konservative Pfarrer Hans Wilhelm Ebeling, später Mitgründer
der Deutschen Sozialen Union (DSU), sperrt die Aktivisten in der Sakristei
ein. "Ihr seid doch alle ferngesteuert", habe er ihnen gedroht
- und: "Wenn Ihr bis morgen 14 Uhr nicht draußen seid, verständige
ich die Polizei". Ähnlich dramatisiert klingt die Einschätzung
des Stasi-Ministers Mielke, der am 31. August zu Protokoll gibt, daß
die Studenten "fast einen Krieg führen wollten". Sieben
Jahre nach dieser Drohung wird Katrin Hattenhauer richtig wütend,
1998, als Ebeling das Bundesverdienstkreuz für seine Verdienste
in der Wendezeit bekommt. "Ebeling gehörte zu der Sorte Mensch,
die sich die Dinge zu Nutzen gemacht haben, der hat sich mit fremden
Federn geschmückt."
Am 11. September 1989 beginnt für Katrin Hattenhauer die härteste
Zeit. "Für ein offenes Land mit freien Menschen" setzt
sie sich auf ihrem Transparent ein. Dafür wird sie aus der Menge
der Montagsdemonstranten gezerrt - und landet im Stasi-Untersuchungsgefängnis
am Dimitroffring. Was sie hier erlebt, hat ein wenig mit Alcatraz und
Papillon zu tun, aber noch mehr mit den besonderen Bedingungen in der
DDR. "Häftlinge aus Rumänien haben mir von körperlicher
Folter berichtet, bei uns war es Psychoterror." Ihr Vernehmer,
der ordnungsgemäß die Dienstmarke des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS) gibt ihr gleich am ersten Tag zu verstehen: "Diesmal
kommen Sie nicht unter zehn Jahren davon, aber Sie wissen ja, ich stehe
auf langhaarige Frauen." Einen Haftrichter bekommt Hattenhauer
nicht zu Gesicht, stattdessen bringt ihr Vernehmer sie zum Frauenarzt.
Um herauszufinden, ob der von der Stasi gewählt Deckname "Jungfrau"
auch stimme. Tatsächlich aber läuft Hattenhauer in den Akten
der Operativen Personenkontrolle (OPK) unter "Meise". Trotz
aller Demütigungen läßt die Dissidentin sich nicht einschüchtern.
"Ich will Täterin bleiben", redet sie sich in den schweren
Stunden ein und schöpft das Wasser aus der Kloschüssel, um
mit dem Häftling unter ihrer Zelle Kontakt aufzunehmen. Als sie
einmal dabei erwischt wird, sperrt man sie stundenlang in einen Blechspind.
Sie verbingt unruhige Nächte, weil sie alle 30 Minuten von einem
Stasi-Schergen geweckt wird. Außerdem vermittelt ihr Vernehmer
den Eindruck, draußen rollten Panzer und es werde geschossen.
Ihr Name und die Namen von anderen Verhafteten stehen damals auf einem
Transparent in einem Fenster der Nikolaikirche, das mit einem Slogan
überschrieben ist: "In den Zeitungen des Landes steht: 'Hier
herrscht Freiheit'. Das ist eine Lüge: Freiheit herrscht nicht."
Im Friedensgebet des 25. September protestiert Nikolaikirchen-Pfarrer
Führer gegen die Verhaftungen und sein Amtskollege Wonneberger
hält die Predigt: "Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu ändern.
Mit Gewalt läßt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter
machen. (...) Wer anderen die Fluchtwege raubt, hat bald selbst keine
Fluchtwege mehr (...) Staatliche Gewalt muß effektiv kontrolliert
werden - gerichtlich, parlamentarisch und durch uneingeschränkte
Mittel der öffentlichen Meinungsbildung."
Als Katrin Hattenhauer am 13. Oktober aus dem Stasi-Gefängnis freikommt,
ist der Spuk noch lange nicht vorbei. Zusammen mit dem für die
Auflösung der Stasi gegründeten Bürgerkomitees versucht
sie nachzuweisen, daß es eine enge Zusammenarbeit von Polizei
und Stasi gegeben hat. Immerhin befinden sich Dienststellen beider Behörden
auf dem gleichen Grundstück. Vorladungen zu Verhören hat Hattenhauer
von der Polizei bekommen, verhaftet aber hat sie der Staatssicherheitsdienst.
An die Reaktion der Polizisten, als sie einen Verbindungsgang zwischen
Kripo und Stasikerker ausfindig zu machen sucht, erinnert sie sich noch
genau: "Die haben so getan, als wüßten sie nichts vom
Stasi-Gefängnis."
Doch der Triumph über ihren Vernehmer, dessen Schicksal ihr heute
völlig egal ist, ist Hattenhauer zu diesem Zeitpunkt schon gewiß.
Verstohlen hat sie damals eine Gabel mit der Aufschrift MfS eingesteckt,
und die Gabel in der Faust als sinnfälliges Zeichen ihres Sieges
über die Staatsmacht geballt. "Ich bin Täterin geblieben,
das ist entscheidend."
DANIEL STURM