Daniel Sturm
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Warum dieses Einheitsbuch kein Gutes ist
Kreuzer, Mai 2000

"Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist" erzählt 20 persönliche Anekdoten über die Wendezeit und kokettiert unweigerlich mit einer öden Einheitsmystik.

Die Erzählsituation dieses Buches gleicht einer U-Bahnfahrt in Berlin: Alle zwei Stationen erzählt dort jemand scheinbar freimütig die Geschichte seines Lebens, das von Aids, Obdachlosigkeit oder Drogenkonsum geprägt ist. Am Ende des Vortrages steht eine Geldspende der Zuhörer - oder auch nicht. Wer den Sammelband "Warum die Einheit keine ist" angeboten bekommt, sollte seinen Geldbeutel besser in der Jackentasche festhalten. Es ist ein langweiliges Buch und versprüht eine Weinerlichkeit, die einem jeden Deutschen bekannt sein dürfte. Dabei fällt es fast durchweg schwer, dieses aufgesetzte Leiden an der fehlenden Einheit mit der nötigen Lese-Passion zu verfolgen.

Gleich im ersten Kapitel berichtet die ehemalige DDR-Bürgerin Jana Simon, die beim Tagesspiegel die Rubrik "Der andere Blick" betreut, von ihren Recherche-Reisen im heutigen Osten Deutschlands. "Es entsteht eine Atmosphäre, als würden wir uns seit Jahren kennen, gute Bekannte von Geburt an." Das ist für die Autorin schon genug Kuschelstimmung, um sich mit dem Rest Deutschlands irgendwie entzweit zu wissen. Dahinter steckt nicht der andere, sondern der altbekannte Blick auf das Phänomen des Provinzialismus.
Das Kernproblem ist der anekdotische Ansatz: so wühlen die 20 jungen, meist in Berlin arbeitenden Autoren in ihrer Kindheit, um irgendwie einen Unterschied zur ach so fremden Welt auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges zu rekonstruieren. Dass es keinen gibt, hängt zum großen Teil damit zusammen, dass die meisten 1989 gerade mal 18 Jahre alt waren. In diesem Alter machen fast alle Jugendlichen Ost, West, Süd und Nord hundsgewöhnliche Konsumerfahrungen. Und in dieser Hinsicht gibt es wirklich kaum nennenswerte-, das heißt erinnernswerte Unterschiede zu erzählen, außer, dass die Cola im Osten ein wenig "nach Hundepisse" geschmeckt hat (Tamer Yigit) und es im Westen Cornflakes zu futtern gab (Susanne Leinemann). Damals, schreibt Guido Faßbender über die Wiedervereinigung in dem einzigen Beitrag, der in der Heldenstadt Leipzig spielt, "kam mir das ungefähr so absurd vor wie eine Wiedervereinigung mit Österreich." Absurd erscheint folglich der Versuch, diese individuell jeweils verschieden erlebte Umbruchszeit dann doch so pauschal einzufangen. Und so lesen sich manche Reportagen (fast alle Autoren sind Journalisten) so, als würde ein Automechaniker gezwungen, über seine Erfahrungen mit der Opernwelt zu berichten.

Und nichts ist für ein Buch gefährlicher, als den armen Leser abschweifen zu lassen. Ich selbst stamme zum Beispiel aus der Provinz Baden und habe zum letzten Mal die wohlige Wärme der Herkunft verspürt, als ich mit Wolfgang Schäubles älterem Bruder Frieder, ebenfalls aus Südbaden, in Leipzig ein Gespräch führte. Es wäre aber nun weit gefehlt, aus diesem Gefühl eine mystische Einheitserfahrung abzuleiten. Mit derartigen Wünschen jedoch kokettiert das Buch unweigerlich, wenn es aus den wenigen Erfahrungen, die viele der Autoren in ihrem rund 30-jährigen Leben gesammelt haben, ein festes System zementiert. Wessis bleiben Wessis und Ossis Ossis.

Spannender wäre es, ein Buch mit folgendem Titel zu schreiben: "Verschiedene Geschwindigkeiten. Warum es nie ein Tempolimit für Gefühle geben wird." Denn eines wird nach Lektüre der Essays wirklich deutlich, ohne dass die Autoren es klipp und klar sagen: Die Unterschiede zwischen Ost und West sind allen so ziemlich schnurzpiepe. Weil aber das Aufsatzthema nun einmal so gestellt war, musste man sich an die provinziellen Gepflogenheiten halten. Befreit von solchen Zwängen ist einigen zu wünschen, da sie sprachlich durchaus das Zeug dazu hätten, besser in die Fußstapfen des Sonnenallee-Autors Thomas Brussig zu treten. Dort wird von grenzenlosen Gefühlen erzählt, die es hüben wie drüben gibt. Und die auch tragikomisch scheitern, weil einer schneller l(i)ebt als der andere. Deutsch Ost- oder Westsein ist dafür kein Kriterium, wie es übrigens am besten Robert Musil formuliert hat: "Wir Deutsche, das ist die Fiktion einer Gemeinsamkeit zwischen Handarbeitern und Professoren, Schiebern und Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren, die es nicht gibt. Das wahre Wir ist: Wir sind einander nichts. Wir sind Kapitalisten, Proletarier, Geistige, Katholiken und in Wahrheit viel mehr über unsere Sonderinteressen und über alle Grenzen weg verflochten als untereinander. Der deutsche Bauer steht dem französischen Bauern näher als dem deutschen Städter, wenn es darauf ankommt, was real ihre Seelen bewegt."

DANIEL STURM

Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist. Hrsg. von Jana Simon, Frank Rothe und Wiete Andrasch. Aufbau-Verlag 2000, 237 S.