"Es darf keinen schwachen Staat
geben"
Kreuzer, November 2001
Professor Dan Diner gilt als einer der bekanntesten
Historiker, die sich mit der Erforschung des Holocausts einen Namen
gemacht haben. Er sitzt im Beirat des Jüdischen Museums in Berlin
und ist Direktor des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts, das eine Konferenz
zum Thema "Jüdische Fragen - Kommunistische Antworten?"
veranstaltet. Im KREUZER-Interview spricht Diner über die multi-ethnische
Gesellschaft in den USA, Islam, Anti-Amerikanismus und die möglichen
Folgen nach dem Terrorakt auf das World Trade Center.
KREUZER: Die Konferenz thematisiert das Verhältnis
von Juden zum Kommunismus im 20. Jahrhundert. Was genau interessiert
Sie an diesem Forschungsgebiet?
Diner: Es ist natürlich ein pikantes Thema, zumal in diesen Breiten.
Wir haben uns entschlossen, es aufzugreifen, weil wir uns hier in einem
neuen Bundesland befinden und weil unser Gegenstand sich besonders mit
Mittel- und Osteuropa befasst.
KREUZER: Wie groß war der Anteil von Juden, die sich für
den Kommunismus als weltanschauliche Option entschieden haben?
Diner: Die Juden, die sich dem Bolschewismus bzw. Kommunismus anschlossen,
waren eine winzige Minderheit. Aber innerhalb der kommunistischen Bewegung
ist es auffällig, dass in der ersten, zweiten und dritten Riege
der Parteiführungen Ostmitteleuropas oft säkularisierte Juden
standen. Diese Häufung hat für antisemitische Weltdeutungen
Material geliefert. Behauptungen, der Kommunismus selbst sei eine jüdische
Erfindung, sind nicht unerheblich und gehören mit in den Haushalt
des Antisemitismus.
KREUZER: Sehen Sie historische Parallelen zu jungen Muslimen in Deutschland,
die seit einigen Jahren verstärkt islamistischen Gruppierungen
zulaufen?
Diner: Eine ganz schwierige Fragestellung. Es gibt Länder, die
ein Problem mit Konfessionalität haben. Die neuere deutsche Geschichte
zum Beispiel ist ohne den Schlüssel der Konfesionalität gar
nicht zu verstehen. Schauen Sie sich die alte Bundesrepublik an: Fast
alle CDU-Bundeskanzler sind aus dem südwestdeutschen (mehrheitlich
katholisch), alle sozialdemokratischen Kanzler aus dem norddeutschen
Kontext (mehrheitlich protestantisch) hervorgegangen. Es gibt also einen
insgeheimen Konfessionalismus. Das Problem im Islam ist, dass er keine
Konfession geworden ist, während sich zum Beispiel das deutsche
Judentum "protestantisiert" hat. Der Islam hat kein Säkularisierungsverfahren
durchgemacht, hier sind Religion und Staat eins.
KREUZER: In Ihrem Buch "Verkehrte Welten" (1993) schreiben
Sie über den Antiamerikanismus: "Keine Macht der Welt bietet
sich solch feindseliger Bebilderung besser an als die Vereinigten Staaten."
Diner: Amerika ist ein Problem, das sich allen Traditionskulturen stellt.
Auch in Deutschland und Europa gibt es Anti-Amerikanismus. Selbst in
der "besseren" Presse gibt es so ein Element der klammheimlichen
Freude darüber, dass den Amerikanern so etwas zugestoßen
ist. Ich war gerade in Amerika, als es passiert ist, und habe mich gewundert,
wie sehr sich das Land in den letzten 15 Jahren zu einer absolut multirassischen
Gesellschaft verändert hat. Auf der Telefonkarte steht "dial
one for english, two for chinese, three for spanish". Nicht einmal
die Sprache hat die Bedeutung, die sie in unseren Breiten hat! Schon
morgen kann es eine Mehrheit geben, die Spanisch spricht. Dann werden
die Gerichte eben spanisch mit den Richtern und Anwälten zu verkehren
haben! Amerika ist der Bindestrich - also afro-american und native-american
etc. - und der Bindestrich bedeutet "Prozedere". Es ist eine
Gesellschaft, die nur auf Verfahren basiert. Das ist das eigentlich
Revolutionäre an dem Unternehmen Amerika.
KREUZER: Nach dem 11. September malten amerikanischen Medien das Feindbild
der "arabs" an die Wand, was zuvor völlig undenkbar schien.
Beginnt das multiethnische Modell an dieser Stelle zu zerbrechen?
Diner: Wenn es an dieser Stelle bricht, bricht es an allen Stellen.
Insofern muss diese Stelle gefestigt werden, mit Beton oder womit auch
immer Sie wollen. Die größte ethnische Gruppe in Amerika,
über 70 Millionen Deutsche, gehört zu einer quasi verschwundenen
"Minderheit". Das hat viel mit dem Ersten Weltkrieg und dem
"German Bashing" zu tun, was damals stattgefunden hat. Und
die Amerikaner wissen, dass das nie wieder passieren darf, zumal sie
heute viel multikultureller sind als noch vor 30 Jahren. Mir ist auch
aufgefallen, dass sich die Schwarzen total amerikanisiert haben. In
Harlem sah man nach dem 11. September überall Stars & Stripes.
Das muss man sich mal klar machen!
KREUZER: Der kalte Krieg ist vorüber. Steuern die alten Blöcke
heute auf Waffenbrüderschaft gegen "den Islam" zu?
Diner: Das ist ein optischer Irrtum. Die historischen Konkurrenten sind
eigentlich Russland und der Islam. Der Westen hat den Islam immer gestärkt.
Die Serben haben den Westen angeklagt haben, er würde für
die Muslime in Bosnien Partei ergreifen. Den Staat Pakistan gäbe
es ohne Amerika nicht, denn seit seiner Gründung 1947 garantieren
die USA seine Existenz. Auch das osmanische Reich hätte wahrscheinlich
schon Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr bestanden, wenn England
nicht auf der Wacht gestanden hätte gegenüber Russland. Aber
plötzlich glauben viele Menschen, dass Christen gegen Muslime stehen.
Das ist alles Rhetorik und hat historisch überhaupt keine Basis.
KREUZER: Sie prognostizieren eine Ethnifzierung der Politik, die nach
dem Ende der Ideologien als "dritter Weg" daherkommt. Wo sehen
Sie die Konfliktregionen der Zukunft?
Diner: Was gegenwärtig passiert, ist historisch ohne Beispiel.
Wir haben immer das Gefühl gehabt, bestimmte Konflikte durch Geschichte
erklären zu können. Im Augenblick geht das nicht, weil wir
in einer globalisierten Welt leben, wo auch Territorialisierungen aufgehoben
sind. Das heißt, Amerika ist plötzlich in die weite Welt
hinausgezogen worden. Das Paradoxe ist, dass Amerika eine absolut ultra-isolationistische
Regierung hatte, die jetzt keine andere Wahl hat, als ultra-interventionistisch
zu sein. Die Amerikaner hatten eine Wirtschaft, die nur auf Sparen aus
war, und jetzt schütten sie Milliarden in die Wirtschaft. Das hätte
ja nicht einmal Roosevelt gewagt!
KREUZER: Wenn das Phänomen Terrorismus globalisiert ist, halten
Sie dann auch die Lokalisierung des Feindes in Afghanistan für
einen Fehler?
Diner: Das kann ich nicht beurteilen, schließlich liegen mir keine
Geheimdienstberichte vor. Was Sie im Fernsehen sehen, ist ja nur für
die Zuschauer und hat sonst keinerlei Bedeutung. Es ist jedoch interessant,
dass Amerika durch die Globalisierung eine kontinentale Tradition nachholen
wird, nämlich die der Staatsbildung. Ausweise, Meldewesen, Stärkung
der Zentralmacht. Amerika muss sich nun staatlicher verhalten. Als die
Taliban sagten, sie würden Bin Laden nicht ausliefern, war deshalb
auch die Reaktion der Amerikaner: "Wenn ihr es nicht könnt,
schaffen wir einen anderen Territorialstaat." Es darf keinen schwachen
Staat geben, das ist das Paradoxe der Globalisierung.
KREUZER: Der Nationalsozialismus steht nach ihren Worten für einen
einzigartigen "zivilisatorischen Bruch". Halten Sie, was in
New York und Washington geschehen ist, für einen ebensolchen?
Diner: Nein, es war eine Überraschung. Da ist ein Passagierflugzeug
zu einem Marschflugkörper umgewidmet worden - und das war's.
INTERVIEW: DANIEL STURM