Daniel Sturm
Journalism & Research


         

Politics

War & Sept. 11

Arts & Entertainment

Environment & Technology

Racism

General Interest

 

curriculum vitae

 

Order Book Online Amazon.de

 

 

Abenteuer Südsee
Kreuzer, Juni 2000

Sea, Sex and Sun -- vor den Toren von Leipzigs. Kaum zu glauben, aber wahr. In der vom Tagebau zerklüfteten Mondlandschaft entsteht eine riesige Seenplatte. "Cospuden" heißt das erste von vier ehemaligen "Restlöchern", das vom 1. Juni an ganz unter Wasser steht. Mit dem Fahrrad ist der Cospudener See gerade mal eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt. Seine Flutung hätte bei normalem Tempo bis 2010 gedauert, aber wegen der Expo konnte die Stadt auf die Tube drücken. Hier wie in den anderen Expo-Teilprojekten, dem Stadtumbau von Plagwitz, dem Wendepunkt '89 und dem Zentrum für Bucherhaltung, will Leipzig "den Wandel zeigen". Weil sich der Südraum besonders krass verändert, hat sich der KREUZER für eine Reportage rund um Cospuden entschieden. Von Daniel Sturm (Text) und Mario Kühn (Bilder).

Leipzigs sumpfige Auewäldern standen bei frisch Verliebten einst gar nicht hoch im Kurs. "Da stank es überall nach Bärlauch", erzählt ein alter Leipziger. Das törnte ab. Also ließen Mann und Frau die Urwälder schnell hinter sich, in denen allenfalls Frösche Liebe machten, um schnell sandigere Böden zu erreichen. Über Markkleeberg ging es trockenen Weges per Fahrrad in den großen Staatsforst Neue Harth. Doch die Braunkohle fegte den Liebes-Wald in den 20er Jahren weg, der Tagebau fräste sich fortan kreisförmig durch den ganzen Südraum und tilgte bis zum Ende der DDR 60 Siedlungen. Kohle, Energie, Krieg und später Wiederaufbau -- diese Ziele liefen der Liebe den Rang ab.

Ab 1. Juni darf wieder geliebt werden. Neue sandige Böden sind, als wollte man alte Wunden schließen, pünktlich zum Start der EXPO eigens für Mann und Frau angelegt worden. Ein drei Kilometer langer Strand zieht sich entlang des alten Tagebaus "Cospuden", der seit März 1998 mit Wasser vollgelaufen ist. Maximal 10.000 Badegäste können täglich wählen, ob sie nun am FKK- oder Textil-Strand baden gehen, segeln, tauchen oder einfach nur in der Dünenlandschaft das Geschehen von Ferne beobachten.

"Südsee" würde Christian Conrad von Pier 1, Betreiber des neuen Strandes mit eigenem Hafen, die neue Wasserfläche gerne taufen. Doch die Entscheidung, wie die neue Landschaft im Süden von Leipzig nun heißen soll, ist noch nicht endgültig gefallen. Denn die Flutung des Cospudener Sees ist nur der Auftakt für eine gigantische Landschaftsumgestaltung. In drei Jahren wird es noch mehr Strände am künftigen Markkleeberger See (250 Hektar) geben. Aus dem ehemaligen Espenhainer Tagebau wird 2004 noch der Störmthaler See (733 Hektar) hervorgehen und aus dem Canyon des Zwenkauer Tagebaus entsteht der noch größere Zwenkauer See (1000 Hektar). Namen wie "Neuseeland", "Südsee" oder "Leipziger Seenplatte" sind für die Wasserflächen im Gespräch, die alles in allem acht mal acht Kilometer umfassen werden.

"Sonne, Sex und Sand, das sind schon Reisemotive", bestätigt Richard Schrumpf, Geschäftsführer des Leipzig Tourist Service (LTS). Der Mann muß es wissen, schließlich hat er der Schweizer früher als Hotellerist am Vierwaldstätter See gearbeitet. Weil aber das Alpenpanorama nicht aus dem Hut zu zaubern ist, und Touristen allenfalls wegen Bach nach Leipzig kommen, empfiehlt Schrumpf eine Naherholungs-Variante. Sonne und Sex für den Großraum Leipzig gewissermaßen. "Viel Platz für Badende und der Rest ist für die Würstebeißer und Würmerzähler." Außerdem, meint Schrumpf, habe sich Leipzig bei hoher Arbeitslosigkeit entschieden, voll auf die Wirtschaft zu setzen. Der Touristiker hält es für zwingend geboten, "hohe Lebensqualität zu schaffen, um den Wirtschaftsstandort auch für Unternehmer interessant zu machen."

Damit es der Wirtschaft gefällt -- mit diesem Satz hat vor 80 Jahren alles angefangen. Leipzig ist stolz, ein unterirdisches Braunkohleflöz zu haben, und Sachsen ist deshalb stolz auf Leipzig. Doch in der Kasse klafft aufgrund des verlorenen Ersten Weltkriegs ein Loch. Als die Amerikaner 1920 eine 12-Millionen-Dollar-Anleihe bewilligen, sitzt Karl Berger gerade mit dem sächsischen Wirtschaftsminister Dr. Reinhold im "Trinkstübchen des Rates der Stadt". Am Politiker-Stammtisch geht es hoch her. Der promovierte Wanderfreund ist ein guter Beobachter, seine Erinnerungen hat er 1933 in dem Reiseroman "Das Leipziger Land. Wanderungen in der Umgebung einer Großstadt" festgehalten. Sein Schoppen Wein, schreibt Berger, will ihm erst gar nicht schmecken. Denn er ist ein Naturfreak und in der allgemein ausgelassenen Stimmung spürt er, daß die Bagger nicht mehr aufzuhalten sein würden. Damals habe er geahnt, daß von den "lieblichen Aue-Dörfchen" nicht viel übrig bleiben würde, wenn sich erst die Sächsische Werke AG aus Dresden in Böhlen niedergelassen hat. Erst als die Ratsherren eine "grundsätzliche Zurückstellung des Kohlenbergbaues in den übrigen Teilen des Leipziger Landes beschließen", bestellt Berger frohgemut einen neuen Schoppen Wein. Seine Haltung ist eindeutig: wird der Leipziger Südraum der Kohle geopfert, muß die Natur an anderer Stelle umso nachdrücklicher geschützt werden.

Diese Taktik der Naturschützer hat sich bis heute kaum geändert. So verfolgt Joachim Schruth, der Chef des Leipziger Naturschutzbundes (NABU), ein ganz ähnliches Ziel wie Naturfreund Berger anno 1920. Der Wirtschaft ein Opfer bringen, um an anderer Stelle umso stärker punkten zu können. So hat er den Cospudener See, den er scherzhaft "Badewanne Leipzigs" nennt, als richtig wertvolle Raststätte für Zugvögel längst aufgegeben. Der Parkplatz am Nordstrand, der 800 Autos Stellplätze bietet, und die im Parkservice integrierten Shuttle-Busse stören seiner Meinung nach die Pflanzen- und Tierwelt nur noch mehr. Naturschützer Schruth trocken: "Diese Kröte müssen wir schlucken."

Von den jährlich zu erwartenden 200.000 Badegästen gehe zu viel Lärm aus, als daß sich Watvögel daran gewöhnen könnten. Dafür rasten über 200 Vogelarten am unweit südlich gelegene Rückhaltebecken Stöhna, das seit dem 1. Januar diesen Jahres unter Naturschutz steht. Schruth hat schon seit 1981 davon geträumt, daß die Bussarde über den Canyons ihre Kreise ziehen und Menschen endlich wieder saubere Luft atmen können. "Auf Schwefel komm raus", steht beschwörend auf einem der Flyer, die er anläßlich eines "Umweltgottesdienstes" in der Endphase der DDR verteilte.

Damals herrschte in den südlichen Bezirken Leipzigs bei ungünstiger Wetterlage akuter Smog. Die Espenhainer Braunkohle-Schwelerei galt als größte ihrer Art in Europa, zehn Prozent der Weltproduktion an Rohbraunkohle wurden hier verarbeitet -- jährlich 60 Millionen Tonnen. Gleichzeitig war die Fabrikanlage Europas größte Dreckschleuder, weil sie keine Rauchgas-Entschwefelungsanlage besaß. Eine biologische Kläranlage gab es bis 1989 nicht und so gelangten die gefährlichen Phenol- und Schwermetall-Schlämme aus der Kohlechemie ungeklärt in Elster und Pleiße. Als die Kohlechemie nach der Wende abrupt vom Netz genommen wurde, sichteten die Umweltaktivisten bald wieder Fische. "Die waren noch nicht alle ganz gerade", erinnert sich Erhard Berbich vom NABU mit sarkastischem Unterton.

Gefahr droht auch von der Altdeponie an der Crostewitzer Höhe. Links der Bundesstraße 95, südlich von Markkleeberg, signalisieren Schilder "Lebensgefahr" und "Betreten verboten." Dort zirpen zwar friedlich die Grillen, doch unter der Oberfläche schlummern Gifte, die keiner so genau kennt. Zu DDR-Zeiten wurden auf dem Gelände Chemie- und Hausmüll verkippt und mit Abraum aus dem Tagebau verfüllt. Wenn 2001 die Flutung des angrenzenden Markkleeberger Sees beginnt, könnte es nach Ansicht von Experten böse Überraschungen geben. "Der Fuß der Deponie könnte mit dem Markkleeberger See in Berührung kommen", meint der 65-Jährige Erhard Berbich, der früher als Verfahrenstechniker in der Giftschleuder Espenhain gearbeitet hat. Das Wasser des neuen Sees würde in diesem Fall empfindlich verschmutzt. Auch Niels Gormsen, Südraum-Beauftragter der Stadt Leipzig, hält die Deponie für ein ziemlich ungelöstes Problem, "weil man sie nie auf ihre Inhaltsstoffe analysiert hat."

Glasklar hingegen ist das Wasser am Cospudener See. Die Wasserqualität will Christian Conrad künftig mit Schautafeln im Hafen dokumentieren. Während des ersten Ansturms auf den neuen See plant der 29-Jährige im Büro direkt am Pier1, mit Blick über den 25 Meter langen Steg zu übernachten. "The million dollar view", nennt er das nicht ganz ohne Ironie. Schließlich haben die jungen Macher von Pier 1 von der Bank sieben Millionen DM geliehen, und 700.000 DM Eigenmittel zusammengekratzt, um ihr Projekt "Cospuden -- der See" zu finanzieren. Das Geld soll sich in den nächsten 30 Jahren durch den Betrieb von Strand und Hafen wieder einspielen.

In den drei Hafengebäuden haben das Restaurant Pier 1, ein Bootshaus und Tauchcenter sowie eine Sauna Platz. Die Hälfte der 200 Bootsliegeplätze seien bereits vermietet (jeweils rund 1.000 DM pro Jahr), dazu kommen die Mieteinnahmen für Vereinshäuser (350 DM im Monat), Sauna, Surfshop und der Verleih von Wassersportgeräten. Jollen, Hydro-Bikes, Wassertreter, Ruderboote, Kanus und Kajaks rangieren von 18 bis 22 DM pro Stunde. Im Restaurant Pier 1 sollen die Fischesser auf ihre Kosten kommen, aber auch ein Eiscafé und Bratwurstbuden wird es geben, so daß am Cospudener See keine übertriebene Schickimicki-Kultur Einzug hält. Alle vier Service-Stationen am Nordstrand haben eigene Fahnenstangen, die anzeigen, ob die Strandhütten geöffnet sind. Zumindest an einer Strandhütte soll es nach den Planungen von Pier 1 immer Eis und Imbisse zu kaufen geben. Conrad ist froh, daß der Cospudener See am 1. Juni wieder normaler Polizeigewalt unterstellt wird, und hofft darauf, "daß damit das wilde Würstchen-Grillen" ein Ende hat, "sonst wäre der weiße Sandstrand binnen einem Jahr unbrauchbar." Mit dem Anbaden wird das ehemalige Tagebaurestloch aus dem Bergrecht entlassen.

"Das Bergrecht", erzählt Niels Gormsen nicht ohne Ehrfurcht in der Stimme, "stammt noch aus der Kaiserzeit". Wie zum Beweis hält er auf der staubigen Tagebaupiste an, eine Schranke mit Wärterhaus hindert selbst den Südraumbeauftragten am Weiterfahren. "Jetzt müssen Sie dem Bergmann sagen, daß Sie von der Presse sind." Abenteuer Südsee, live. Die Schranke öffnet sich und die Fahrt geht weiter in den Grand Canyon des Zwenkauer Tagebaus. Gormsen gesteht, auf den steil abfallenden Sandpisten schon einige unerlaubte Radtouren unternommen zu haben. Zu verlockend schien ihm der Anblick der schroff abfallenden Sandformationen, auf denen sich die erwachende Ökologie mit Orchideen und allerhand Käfern ihr Recht zurückeroberte. Außerdem hat der gebürtige Mannheimer im Tagebau etwas gefunden, was es erst wieder in Dresden gibt. "Die haben ihr Elbsandsteingebirge, wir haben dieses tolle Loch."

Wo heute ein Loch in der Landschaft klafft, stand bis 1977 das Dorf Magedeborn. Schwer vorstellbar, daß die 3.500 Einwohner ohne Proteste der Braunkohle Platz machten. "Gerade mal drei Eingaben", hat Elisabeth Klabunde, Vorsitzende des Vereins Verlorener Orte, in Archiven ausfindig machen können. Angesichts des großen Energiebedarfs der DDR, so steht zu vermuten, hat den rund 12.000 umgesiedelten Südraum-Bewohnern schlichtweg die Lobby gefehlt. Darauf weisen auch Antworten auf eine Umfrage hin, die Klabunde kürzlich gestartet hat. "Uns wurde immer gesagt, daß Strom das Herzblut unserer Wirtschaft ist -- das haben wir akzeptiert", lautet eine typische Antwort.

Der Verein will nun die Schätze der "versunkenen Welt" unter der Kohle heben. In der Kirchruine Wachau, die fast selbst einst Opfer des Tagebaus geworden wäre, wurden seit 1997 Überreste der verlorenen Orte Crostewitz, Cröbern und Eythra ausgestellt. "Wir können mitunter Häuserzeilen von A bis Z rekonstruieren", sagt die 50-Jährige Kunsthistorikerin. Während sich der Verein mit einem kleineren Beitrag im Expo-Pavillon am Cospudener Nordstrand präsentiert, startet in Wachau am 4. Juni eine Sonderausstellung über die 1000 Jahre alte, aber versunkene Stadt Magdeborn. Nachdem 1979 die meisten Familien in Leipziger Plattenbauten ausgesiedelt worden waren, machten sich raublustige Leute über die Häuser her. Antennen wudren von den Dächern geschraubt. NVA und Sowjetarmee hielten Übungen in Straßenkampf ab. Aber die Geisterstadt diente auch als Filmkulisse. Der Film "Die Birke da oben" nutzte im Mai 1979, zynisch genug, die Ruinen von Magdeborn als Kulisse für das Thema "Wiederaufbau nach 1945" und am 20. Juni '79 wurden auf DDR 1 "Die letzten Tage von Magdeborn" ausgestrahlt.

Die Orte am Rande der Tagebaukante fristeten ein erbärmliches Schattendasein, bis vor drei Jahren die Entscheidung für die Seenlandschaft fiel. So wird der Störmthaler Reiseveranstalter Karl-Detlev Mai verstärkt für "Banketts in der Braunkohle" gebucht. An jedem Wochenende führt er mit seiner "Phönix-Tour" Touristen in die Abenteurlandschaft Südsee. Mit dem Bus geht es in Serpentinen bis auf den Grund des Störmthaler Tagebaus. Nicht mehr lange, schwärmt Mai, "dann ist hier alles unter Wasser und wir werden hier die Regattatstrecke eröffnen".

In Dreiskau-Muckern, das von der Expo eigens als Dorf 2000 gefeiert wird, weil die schon geräumte Geisterstadt erfolgreich wiederbesiedelt wurde, versagt Mais Handy. "Dreiskau Muckern ist noch nicht übers E-Netz zu erreichen", spottet der 50-Jährige. Nach drei Stunden auf und ab durch den Tagebau zücken schließlich alle den Fotoapparat. 503 Meter ragt die Förderbrücke "Böhlen II" in den Zwenkauer Tagebau. "200 Meter länger als der Eiffelturm", kommentiert Mai den Moloch aus tausend Tonnen Stahl. Eine sanfte Brise umweht die Tagebaukante, die schon in wenigen Jahren Uferpromenade sein wird. Unten im Canyon basteln zwei Männer in Blau an einem Ketten-Bagger herum. Eine junge Mutter, deren Kinder sich in einer Förderschaufel sonnen, überlegt sich ein Grundstück am Ufer zuzulegen. "Zuhause in Freiberg, da ist es so kalt."

DANIEL STURM