Abenteuer Südsee
Kreuzer, Juni 2000
Sea, Sex and Sun -- vor den Toren von Leipzigs.
Kaum zu glauben, aber wahr. In der vom Tagebau zerklüfteten Mondlandschaft
entsteht eine riesige Seenplatte. "Cospuden" heißt das
erste von vier ehemaligen "Restlöchern", das vom 1. Juni
an ganz unter Wasser steht. Mit dem Fahrrad ist der Cospudener See gerade
mal eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt. Seine Flutung hätte
bei normalem Tempo bis 2010 gedauert, aber wegen der Expo konnte die
Stadt auf die Tube drücken. Hier wie in den anderen Expo-Teilprojekten,
dem Stadtumbau von Plagwitz, dem Wendepunkt '89 und dem Zentrum für
Bucherhaltung, will Leipzig "den Wandel zeigen". Weil sich
der Südraum besonders krass verändert, hat sich der KREUZER
für eine Reportage rund um Cospuden entschieden. Von Daniel Sturm
(Text) und Mario Kühn (Bilder).
Leipzigs sumpfige Auewäldern standen bei
frisch Verliebten einst gar nicht hoch im Kurs. "Da stank es überall
nach Bärlauch", erzählt ein alter Leipziger. Das törnte
ab. Also ließen Mann und Frau die Urwälder schnell hinter
sich, in denen allenfalls Frösche Liebe machten, um schnell sandigere
Böden zu erreichen. Über Markkleeberg ging es trockenen Weges
per Fahrrad in den großen Staatsforst Neue Harth. Doch die Braunkohle
fegte den Liebes-Wald in den 20er Jahren weg, der Tagebau fräste
sich fortan kreisförmig durch den ganzen Südraum und tilgte
bis zum Ende der DDR 60 Siedlungen. Kohle, Energie, Krieg und später
Wiederaufbau -- diese Ziele liefen der Liebe den Rang ab.
Ab 1. Juni darf wieder geliebt werden. Neue sandige
Böden sind, als wollte man alte Wunden schließen, pünktlich
zum Start der EXPO eigens für Mann und Frau angelegt worden. Ein
drei Kilometer langer Strand zieht sich entlang des alten Tagebaus "Cospuden",
der seit März 1998 mit Wasser vollgelaufen ist. Maximal 10.000
Badegäste können täglich wählen, ob sie nun am FKK-
oder Textil-Strand baden gehen, segeln, tauchen oder einfach nur in
der Dünenlandschaft das Geschehen von Ferne beobachten.
"Südsee" würde Christian Conrad von Pier 1, Betreiber
des neuen Strandes mit eigenem Hafen, die neue Wasserfläche gerne
taufen. Doch die Entscheidung, wie die neue Landschaft im Süden
von Leipzig nun heißen soll, ist noch nicht endgültig gefallen.
Denn die Flutung des Cospudener Sees ist nur der Auftakt für eine
gigantische Landschaftsumgestaltung. In drei Jahren wird es noch mehr
Strände am künftigen Markkleeberger See (250 Hektar) geben.
Aus dem ehemaligen Espenhainer Tagebau wird 2004 noch der Störmthaler
See (733 Hektar) hervorgehen und aus dem Canyon des Zwenkauer Tagebaus
entsteht der noch größere Zwenkauer See (1000 Hektar). Namen
wie "Neuseeland", "Südsee" oder "Leipziger
Seenplatte" sind für die Wasserflächen im Gespräch,
die alles in allem acht mal acht Kilometer umfassen werden.
"Sonne, Sex und Sand, das sind schon Reisemotive",
bestätigt Richard Schrumpf, Geschäftsführer des Leipzig
Tourist Service (LTS). Der Mann muß es wissen, schließlich
hat er der Schweizer früher als Hotellerist am Vierwaldstätter
See gearbeitet. Weil aber das Alpenpanorama nicht aus dem Hut zu zaubern
ist, und Touristen allenfalls wegen Bach nach Leipzig kommen, empfiehlt
Schrumpf eine Naherholungs-Variante. Sonne und Sex für den Großraum
Leipzig gewissermaßen. "Viel Platz für Badende und der
Rest ist für die Würstebeißer und Würmerzähler."
Außerdem, meint Schrumpf, habe sich Leipzig bei hoher Arbeitslosigkeit
entschieden, voll auf die Wirtschaft zu setzen. Der Touristiker hält
es für zwingend geboten, "hohe Lebensqualität zu schaffen,
um den Wirtschaftsstandort auch für Unternehmer interessant zu
machen."
Damit es der Wirtschaft gefällt -- mit diesem
Satz hat vor 80 Jahren alles angefangen. Leipzig ist stolz, ein unterirdisches
Braunkohleflöz zu haben, und Sachsen ist deshalb stolz auf Leipzig.
Doch in der Kasse klafft aufgrund des verlorenen Ersten Weltkriegs ein
Loch. Als die Amerikaner 1920 eine 12-Millionen-Dollar-Anleihe bewilligen,
sitzt Karl Berger gerade mit dem sächsischen Wirtschaftsminister
Dr. Reinhold im "Trinkstübchen des Rates der Stadt".
Am Politiker-Stammtisch geht es hoch her. Der promovierte Wanderfreund
ist ein guter Beobachter, seine Erinnerungen hat er 1933 in dem Reiseroman
"Das Leipziger Land. Wanderungen in der Umgebung einer Großstadt"
festgehalten. Sein Schoppen Wein, schreibt Berger, will ihm erst gar
nicht schmecken. Denn er ist ein Naturfreak und in der allgemein ausgelassenen
Stimmung spürt er, daß die Bagger nicht mehr aufzuhalten sein
würden. Damals habe er geahnt, daß von den "lieblichen Aue-Dörfchen"
nicht viel übrig bleiben würde, wenn sich erst die Sächsische
Werke AG aus Dresden in Böhlen niedergelassen hat. Erst als die
Ratsherren eine "grundsätzliche Zurückstellung des Kohlenbergbaues
in den übrigen Teilen des Leipziger Landes beschließen",
bestellt Berger frohgemut einen neuen Schoppen Wein. Seine Haltung ist
eindeutig: wird der Leipziger Südraum der Kohle geopfert, muß
die Natur an anderer Stelle umso nachdrücklicher geschützt
werden.
Diese Taktik der Naturschützer hat sich bis
heute kaum geändert. So verfolgt Joachim Schruth, der Chef des
Leipziger Naturschutzbundes (NABU), ein ganz ähnliches Ziel wie
Naturfreund Berger anno 1920. Der Wirtschaft ein Opfer bringen, um an
anderer Stelle umso stärker punkten zu können. So hat er den
Cospudener See, den er scherzhaft "Badewanne Leipzigs" nennt,
als richtig wertvolle Raststätte für Zugvögel längst
aufgegeben. Der Parkplatz am Nordstrand, der 800 Autos Stellplätze
bietet, und die im Parkservice integrierten Shuttle-Busse stören
seiner Meinung nach die Pflanzen- und Tierwelt nur noch mehr. Naturschützer
Schruth trocken: "Diese Kröte müssen wir schlucken."
Von den jährlich zu erwartenden 200.000 Badegästen gehe zu
viel Lärm aus, als daß sich Watvögel daran gewöhnen
könnten. Dafür rasten über 200 Vogelarten am unweit südlich
gelegene Rückhaltebecken Stöhna, das seit dem 1. Januar diesen
Jahres unter Naturschutz steht. Schruth hat schon seit 1981 davon geträumt,
daß die Bussarde über den Canyons ihre Kreise ziehen und
Menschen endlich wieder saubere Luft atmen können. "Auf Schwefel
komm raus", steht beschwörend auf einem der Flyer, die er
anläßlich eines "Umweltgottesdienstes" in der Endphase
der DDR verteilte.
Damals herrschte in den südlichen Bezirken
Leipzigs bei ungünstiger Wetterlage akuter Smog. Die Espenhainer
Braunkohle-Schwelerei galt als größte ihrer Art in Europa,
zehn Prozent der Weltproduktion an Rohbraunkohle wurden hier verarbeitet
-- jährlich 60 Millionen Tonnen. Gleichzeitig war die Fabrikanlage
Europas größte Dreckschleuder, weil sie keine Rauchgas-Entschwefelungsanlage
besaß. Eine biologische Kläranlage gab es bis 1989 nicht
und so gelangten die gefährlichen Phenol- und Schwermetall-Schlämme
aus der Kohlechemie ungeklärt in Elster und Pleiße. Als die
Kohlechemie nach der Wende abrupt vom Netz genommen wurde, sichteten
die Umweltaktivisten bald wieder Fische. "Die waren noch nicht
alle ganz gerade", erinnert sich Erhard Berbich vom NABU mit sarkastischem
Unterton.
Gefahr droht auch von der Altdeponie an der Crostewitzer
Höhe. Links der Bundesstraße 95, südlich von Markkleeberg,
signalisieren Schilder "Lebensgefahr" und "Betreten verboten."
Dort zirpen zwar friedlich die Grillen, doch unter der Oberfläche
schlummern Gifte, die keiner so genau kennt. Zu DDR-Zeiten wurden auf
dem Gelände Chemie- und Hausmüll verkippt und mit Abraum aus
dem Tagebau verfüllt. Wenn 2001 die Flutung des angrenzenden Markkleeberger
Sees beginnt, könnte es nach Ansicht von Experten böse Überraschungen
geben. "Der Fuß der Deponie könnte mit dem Markkleeberger
See in Berührung kommen", meint der 65-Jährige Erhard
Berbich, der früher als Verfahrenstechniker in der Giftschleuder
Espenhain gearbeitet hat. Das Wasser des neuen Sees würde in diesem
Fall empfindlich verschmutzt. Auch Niels Gormsen, Südraum-Beauftragter
der Stadt Leipzig, hält die Deponie für ein ziemlich ungelöstes
Problem, "weil man sie nie auf ihre Inhaltsstoffe analysiert hat."
Glasklar hingegen ist das Wasser am Cospudener
See. Die Wasserqualität will Christian Conrad künftig mit
Schautafeln im Hafen dokumentieren. Während des ersten Ansturms
auf den neuen See plant der 29-Jährige im Büro direkt am Pier1,
mit Blick über den 25 Meter langen Steg zu übernachten. "The
million dollar view", nennt er das nicht ganz ohne Ironie. Schließlich
haben die jungen Macher von Pier 1 von der Bank sieben Millionen DM
geliehen, und 700.000 DM Eigenmittel zusammengekratzt, um ihr Projekt
"Cospuden -- der See" zu finanzieren. Das Geld soll sich in
den nächsten 30 Jahren durch den Betrieb von Strand und Hafen wieder
einspielen.
In den drei Hafengebäuden haben das Restaurant Pier 1, ein Bootshaus
und Tauchcenter sowie eine Sauna Platz. Die Hälfte der 200 Bootsliegeplätze
seien bereits vermietet (jeweils rund 1.000 DM pro Jahr), dazu kommen
die Mieteinnahmen für Vereinshäuser (350 DM im Monat), Sauna,
Surfshop und der Verleih von Wassersportgeräten. Jollen, Hydro-Bikes,
Wassertreter, Ruderboote, Kanus und Kajaks rangieren von 18 bis 22 DM
pro Stunde. Im Restaurant Pier 1 sollen die Fischesser auf ihre Kosten
kommen, aber auch ein Eiscafé und Bratwurstbuden wird es geben,
so daß am Cospudener See keine übertriebene Schickimicki-Kultur
Einzug hält. Alle vier Service-Stationen am Nordstrand haben eigene
Fahnenstangen, die anzeigen, ob die Strandhütten geöffnet
sind. Zumindest an einer Strandhütte soll es nach den Planungen
von Pier 1 immer Eis und Imbisse zu kaufen geben. Conrad ist froh, daß
der Cospudener See am 1. Juni wieder normaler Polizeigewalt unterstellt
wird, und hofft darauf, "daß damit das wilde Würstchen-Grillen"
ein Ende hat, "sonst wäre der weiße Sandstrand binnen
einem Jahr unbrauchbar." Mit dem Anbaden wird das ehemalige Tagebaurestloch
aus dem Bergrecht entlassen.
"Das Bergrecht", erzählt Niels
Gormsen nicht ohne Ehrfurcht in der Stimme, "stammt noch aus der
Kaiserzeit". Wie zum Beweis hält er auf der staubigen Tagebaupiste
an, eine Schranke mit Wärterhaus hindert selbst den Südraumbeauftragten
am Weiterfahren. "Jetzt müssen Sie dem Bergmann sagen, daß
Sie von der Presse sind." Abenteuer Südsee, live. Die Schranke
öffnet sich und die Fahrt geht weiter in den Grand Canyon des Zwenkauer
Tagebaus. Gormsen gesteht, auf den steil abfallenden Sandpisten schon
einige unerlaubte Radtouren unternommen zu haben. Zu verlockend schien
ihm der Anblick der schroff abfallenden Sandformationen, auf denen sich
die erwachende Ökologie mit Orchideen und allerhand Käfern
ihr Recht zurückeroberte. Außerdem hat der gebürtige
Mannheimer im Tagebau etwas gefunden, was es erst wieder in Dresden
gibt. "Die haben ihr Elbsandsteingebirge, wir haben dieses tolle
Loch."
Wo heute ein Loch in der Landschaft klafft, stand
bis 1977 das Dorf Magedeborn. Schwer vorstellbar, daß die 3.500
Einwohner ohne Proteste der Braunkohle Platz machten. "Gerade mal
drei Eingaben", hat Elisabeth Klabunde, Vorsitzende des Vereins
Verlorener Orte, in Archiven ausfindig machen können. Angesichts
des großen Energiebedarfs der DDR, so steht zu vermuten, hat den
rund 12.000 umgesiedelten Südraum-Bewohnern schlichtweg die Lobby
gefehlt. Darauf weisen auch Antworten auf eine Umfrage hin, die Klabunde
kürzlich gestartet hat. "Uns wurde immer gesagt, daß
Strom das Herzblut unserer Wirtschaft ist -- das haben wir akzeptiert",
lautet eine typische Antwort.
Der Verein will nun die Schätze der "versunkenen Welt"
unter der Kohle heben. In der Kirchruine Wachau, die fast selbst einst
Opfer des Tagebaus geworden wäre, wurden seit 1997 Überreste
der verlorenen Orte Crostewitz, Cröbern und Eythra ausgestellt.
"Wir können mitunter Häuserzeilen von A bis Z rekonstruieren",
sagt die 50-Jährige Kunsthistorikerin. Während sich der Verein
mit einem kleineren Beitrag im Expo-Pavillon am Cospudener Nordstrand
präsentiert, startet in Wachau am 4. Juni eine Sonderausstellung
über die 1000 Jahre alte, aber versunkene Stadt Magdeborn. Nachdem
1979 die meisten Familien in Leipziger Plattenbauten ausgesiedelt worden
waren, machten sich raublustige Leute über die Häuser her.
Antennen wudren von den Dächern geschraubt. NVA und Sowjetarmee
hielten Übungen in Straßenkampf ab. Aber die Geisterstadt
diente auch als Filmkulisse. Der Film "Die Birke da oben"
nutzte im Mai 1979, zynisch genug, die Ruinen von Magdeborn als Kulisse
für das Thema "Wiederaufbau nach 1945" und am 20. Juni
'79 wurden auf DDR 1 "Die letzten Tage von Magdeborn" ausgestrahlt.
Die Orte am Rande der Tagebaukante fristeten ein
erbärmliches Schattendasein, bis vor drei Jahren die Entscheidung
für die Seenlandschaft fiel. So wird der Störmthaler Reiseveranstalter
Karl-Detlev Mai verstärkt für "Banketts in der Braunkohle"
gebucht. An jedem Wochenende führt er mit seiner "Phönix-Tour"
Touristen in die Abenteurlandschaft Südsee. Mit dem Bus geht es
in Serpentinen bis auf den Grund des Störmthaler Tagebaus. Nicht
mehr lange, schwärmt Mai, "dann ist hier alles unter Wasser
und wir werden hier die Regattatstrecke eröffnen".
In Dreiskau-Muckern, das von der Expo eigens als Dorf 2000 gefeiert
wird, weil die schon geräumte Geisterstadt erfolgreich wiederbesiedelt
wurde, versagt Mais Handy. "Dreiskau Muckern ist noch nicht übers
E-Netz zu erreichen", spottet der 50-Jährige. Nach drei Stunden
auf und ab durch den Tagebau zücken schließlich alle den
Fotoapparat. 503 Meter ragt die Förderbrücke "Böhlen
II" in den Zwenkauer Tagebau. "200 Meter länger als der
Eiffelturm", kommentiert Mai den Moloch aus tausend Tonnen Stahl.
Eine sanfte Brise umweht die Tagebaukante, die schon in wenigen Jahren
Uferpromenade sein wird. Unten im Canyon basteln zwei Männer in
Blau an einem Ketten-Bagger herum. Eine junge Mutter, deren Kinder sich
in einer Förderschaufel sonnen, überlegt sich ein Grundstück
am Ufer zuzulegen. "Zuhause in Freiberg, da ist es so kalt."
DANIEL STURM