Daniel Sturm
Journalism & Research


         


Politics

War & Sept. 11

Arts & Entertainment

Environment & Technology

Racism

General Interest

 

 

 

Order Book Online Amazon.de

 

 

"Den Rhythmus in allen Gliedern"
Eine Reise auf den Spuren Johann Sebastian Bachs in Leipzig, Eisenach,
Arnstadt, Mühlhausen und Köthen
Stadt Leipzig, Mai 2002

Von Daniel Sturm

Leipzig, an einem warmen Frühjahrstag - Das Kaffee Kandler kredenzt Bachtorte mit Buttercreme und Mocca. "Nimm was dein ist und gehe hin" haben die Thomaner eben noch gesungen. 252 Jahre nach seinem Tod ist Johann Sebastian Bach in Leipzig so präsent wie nie zuvor. Die Stadt hat den Thomaskantor, der "den Rhythmus in allen Gliedern hat", wie sein Freund Johann Matthias Gesner einst schrieb, lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Heute dreht sich im edel sanierten Gründerzeit-Ring Leipzigs wieder alles um den großen Musiker. Ein guter Grund, eine Reise auf den Spuren Bachs in der sächsischen Metropole zu beginnen.

Zum Bachfest 2000 erwies Bobby Mc Ferrin auf dem Marktplatz seine Referenz mit jazzig frischen Versionen von Bachs Werken. "Don't worry be happy"? - selbst kulturverwöhnte Zeitgenossen kommen in Leipzig auf ihre Kosten. Denn die Stadt erinnert mit Nachdruck an die Rolle, die sie in der Musikgeschichte gespielt hat. Bach wirkte hier von 1723 bis zu seinem Tode 1750 als Thomaskantor und Director musices. Die Nikolai- und die Thomaskirche waren nicht die einzigen kulturellen Glanzlichter, man unterhielt seiner Zeit auch ein eigenes Musikkaffeehaus. Das im Barockstil rekonstruierte Lokal "Zum arabischen Coffee-Baum", in dem Goethe, Lessing, Schumann oder Napoleon saßen, vermag einen guten Eindruck vom früheren Flair zu vermitteln. Ein Besuch des Hauses empfiehlt sich - nicht nur wegen des integrierten Kaffeemuseums, sondern auch wegen des Coffeins zur Schärfung der Sinne. Denn das Bachmuseum am Thomaskirchhof wartet mit einem fabelhaften Hörkabinett auf, in dessen Ledersesseln man entspannt in den Kosmos der Bachschen Musik eintauchen kann. Die Ausstellung ist erst vor zwei Jahren um ein Drittel vergrößert worden. 400.000 Euro gab die Stadt dafür aus. Cornelia Krumbiegel, die Leiterin des Museums, ist übrigens Mutter des Prinzen-Sängers und Ex-Thomaners Sebastian Krumbiegel.

Die Thomaner sind in Leipzig immer freitags zur Motette (18 Uhr) sowie sonnabends zu Motette und Kantate (15 Uhr) kostenlos zu hören. Um einen Sitzplatz in der Thomaskirche zu ergattern, sollte man rechtzeitig kommen, denn der Chor in den Kieler Blusen ist eine Institution. Das Ambiente in der Thomaskirche ist prächtig. Zum 250. Todestag von Bach wurde sie aufwändig restauriert. Sponsoren fanden sich, nachdem die Kirche in den World Monument Fund der hundert gefährdetsten Kulturdenkmäler der Welt aufgenommen worden war. Die Krönung ist zweifellos die neue Bachorgel nach einer Disposition von Johann Sebastian Bach, gravitätisch tief im Ton.
"Ich glaube, dass dieser Eine, mein Bach, viele Orpheuse und ein paar Dutzend Arions in sich schließt", pries Johann Matthias Gesner seinen Freund. Als musikalischer Auftakt der Spurensuche bietet sich eine Reise in Bachs Geburtsort Eisenach an. Im Instrumentensaal des Bachhauses führt Michael Meißner die Besucher "live" in die Musikwelt des Komponisten ein. Geige und Bratsche waren Johann Sebastians erste Instrumente. Als Kurrendesänger zog er dreimal wöchentlich mit dem Knabenchor durch Eisenach, mit dunklen Umhängemänteln und steifen Hüten. Zur Schule ging er ins ehemalige Dominikanerkloster, in dem 200 Jahre zuvor auch Martin Luther die ersten lateinischen Worte lernte. Im Bachhaus ist nachzulesen, dass der Junge auffallend häufig in der Schule fehlte, aber auch, dass er vielbeschäftigt war: er sang im Straßen-, Schul- und Kirchenchor. Für Eisenach muss man sich Zeit nehmen, nicht nur für das Bachhaus, die Georgenkirche (mit dem Taufstein) und die alte Lateinschule, sondern auch für die reizvolle Umgebung: die Wartburg, auf der Martin Luther und die heilige Elisabeth lebten oder die Hörselberge mit der Venushöhle, die Richard Wagner bei der Entstehung des "Tannhäuser" beeinflusst haben soll.

In Arnstadt ist der junge Wilde Johann Sebastian zu besichtigen. Der 21jährige leitete 1705 den Orgeldienst des Chors der Lateinschule, aber die Schüler waren nur wenig an Musik interessiert. Als ihn eines Abends der nur ein Jahr jüngere Schüler Johann Heinrich Geyersbach mit einem Prügel bedrohte, griff Bach zu seiner Verteidigung nach dem Degen. Vom Konsistorium wegen der Rauferei befragt, räumte er ein, Geyersbach wegen seines grauenhaften Spiels einen "Zippelfagottisten" genannt zu haben. Das örtliche Telefonbuch verzeichnet heute sechs Arnstädter mit dem Namen Geyersbach.

Auf die Idee, Nachfahren von Bach aufzuspüren, kam die Pressesprecherin Eike Küstner, als sie die 1300-Jahrfeier Arnstadts 2004 vorbereitete. "Das waren so unendlich viele. Die einzuladen, hätten wir gar nicht finanzieren können." Dem wilden Bach hat die Stadt 1985 ein Denkmal gewidmet, das einen jungen Mann in offenem Hemd zeigt, auf einem Hocker lümmelnd, die Beine weit von sich gestreckt. Das Haus zum Palmenbaum am Markt zeigt, wie das Denkmal einen regelrechten "Krach um Bach" ausgelöst hat. Amüsant lesen sich die Stimmen, welche die SED-Zeitung "Das Volk" nach der Einweihung des Denkmals zitiert: "Ein Musikus liegt nie, er steht oder sitzt", gab etwa ein Rentner zu Protokoll. Das beste Stück der Ausstellung ist der kleine, originale Spieltisch der Wender-Orgel, die Bach 1703 in Arnstadt geprüft hat. Die komplette, rekonstruierte Orgel des Instrumentenbauers wurde der Öffentlichkeit 2000 in der Neuen Kirche vorgestellt, die heute den Namen des berühmten Komponisten trägt.

Echt Bach ist auch das kleine Fachwerkhaus in der Kohlgasse 7. Über 30 Jahre lang gehörte es der Familie des Onkels Johann Christoph Bach. "Da der Besitz in die Wirkungszeit Johann Sebastians fällt, ist er sicher hier ein- und ausgegangen, wahrscheinlich hat er sogar hier gewohnt", sagt Peter Damaschke vom Altstadtkreis. Der Verein hat zum Erhalt dieses einzig nachgewiesenen Bachhauses, das 1992 fast total verfallen war, fleißig Spenden gesammelt. Mittlerweile sind die Fundamente und Fenster saniert. Im nächsten Jahr, zum 300. Jahrestag der Anstellung Bachs in Arnstadt, öffnet das Haus wieder für Musik und Kultur. Geplant ist neben regelmäßigen Konzerten eine Ausstellung zur Geschichte der 24 "Bache" in Arnstadt.

Mit "fremden Tönen" und "viel wunderlichen variationes" hat Bach die Gemeinde in Arnstadt zuletzt "confudieret". Die Akten verweisen auf einen Kontrapunkt zum weit verbreiteten Klischee vom barocken Musiker mit Perücke. Der junge Bach war stürmerisch, zuweilen auch ein wenig "halsstarrig". So heisst es über Bach am Weimarer Hof, als er nach elf Jahren partout den Dienst quittieren will und Fürst Herzog Wilhelm Ernst ihn kurzerhand für einen Monat einsperren lässt. Wertvolle Dokumente werden auch im Reichsstädtischen Archiv in Mühlhausen, Bachs nächster Lebensstation, aufbewahrt. Auf dem Weg dorthin sollte man die kleinen Straßen wählen. Sie führen durch das landschaftlich reizvolle Thüringer Burgenland und die kleine Stadt Wechmar, die sich als Ursprungsort der Familie selbstbewusst in Szene gesetzt hat. Über Vitus Bach, den Bäcker, der um 1600 nach Wechmar eingewandert ist, kolportiert Johann Sebastian selbst: "Er hat sein meistes Vergnügen an einem Cythringen gehabt, welches er auch mit in die Mühle genommen und unter währendem Mahlen darauf gespielt hat." Das ehemalige Backhaus ist liebevoll als Museum eingerichtet und zeigt die Bachsche Ahnenreihe in einer einzigartigen Silhouettensammlung. Bis 2004 soll die Mühle des Ur-Urgroßvaters restauriert werden.

Auch ein Tagesausflug nach Köthen in Sachsen-Anhalt lohnt. Das kleine Städtchen hat einen liebevoll erhaltenen Altstadtkern und hält seine Perlen, wie bei kleinen Städten oft der Fall, ein wenig versteckt. Das Bachdenkmal weist direkt auf einen Irish Pub. Dabei steht das "Shamrock" nur äußerlich im Widerspruch zur Bachpflege, gelten die Iren doch als das musikalischste Volk Europas - und einmal die Woche wird sogar live Musik gemacht. Drinnen kredenzt der Kellner das Jubiläumsbier der Köthener Brauerei. Natürlich Marke "Johann Sebastian Bach".

Im barocken Wasserschloß, mit sehenswertem Spiegelsaal und Schlosskapelle, hat Bach als Kapellmeister formal die Spitze seiner Laufbahn erreicht. Die Bedingungen müssen gut gewesen sein, andernfalls würde er seinen Dienstherrn Fürst Leopold nicht als einen "Music so wohl liebenden als kennenden Fürsten" beschrieben haben. Ein Inventar von 1729 verzeichnet 31 Musikinstrumente und einen Bestand an "Italiänischen, Frantzosischen und anderen Musicalia". Nur Bachnoten sind nicht bezeugt. "Schriftlich ist hier tabula rasa", erzählt Günther Hoppe, der das Historische Museum im Schloss seit 1982 leitet. Aus der Not der dünnen Überlieferung hat der Forscher eine Tugend gemacht und das Umfeld des 32-Jährigen abgegrast. So weiß er, dass Bach in der St. Agnus-Kirche nur sehr selten, nämlich acht Mal, zur Beichte gegangen ist. "Das zeugte von Standesbewusstsein", sagt Hoppe. Eigentlich hätte Bach also zufrieden sein müssen, wenn nicht die neue Gemahlin des Fürsten, Prinzessin Friederika Henrietta von Anhalt-Bernburg, eine solche "amusa" (in Bachs Worten) gewesen wäre. Doch da die junge Fürstin im Frühjahr 1723 verstarb, also noch vor Bachs Berufung zum Thomaskantor in Leipzig, kann die "amusa" kaum der einzige Grund für seinen Abgang vom Köthener Hof gewesen sein.

Ungelöst bleibt auch das Rätsel, wo die Familie Bach gewohnt haben mag. Nach vielen Spekulationen beauftragte die Stadt 1930 den Hellseher Max Möcke, der nach einem Stadtrundgang auf die Wallstraße 26 tippte. Später fand man heraus, dass dort zu Bachs Lebzeiten noch gar keine Häuser gestanden hatten. Über solche und andere Fragen empfiehlt es sich im roten Logenplüsch der Speisegaststätte "Theatertreff" nachzusinnen. Bei regionaltypischer Küche mit Klößen aus Köthen lässt sich erahnen, dass der Abschied vom Idyll doch ein wenig schwer gefallen sein muss.

Schlicht unverstanden blieb Bach seinerzeit in Leipzig, dessen Magistrat dem Genie nicht allzu viel Respekt und Lohn entgegenbrachte. Im Tresor des Bach-Archivs, das der renommierte Harvard-Professor Christoph Wolff leitet, liegt das Original jener legendären Beschwerde an den Leipziger Rat. Der heutige Thomaskantor Georg Biller knüpfte im Bachjahr 2000 ironisch an die Eingabe eines Vorgängers an und formulierte eine eigene Denkschrift: "Neuer, jedoch höchst nötiger Entwurf einer wohlbestallten Kirchenmusik". Wie damals Bach ging es ihm darum, die Nachwuchsarbeit zu verbessern.

Billers kritische Worte galten jedoch kaum dem Leipziger Rat, denn der ist heute alles andere als ein Bollwerk der Bachverachtung. Geschickt spielt Kulturdezernent Georg Girardet seit Jahren Johann Sebastian Bach als Trumpf aus. In der Konzentration auf das Erbe des Thomaskantors sieht er "die einmalige Chance, sich weltweit wieder als die Bachstadt schlechthin in Erinnerung zu rufen." So hat die Stadt 1999 ein Bachfest entwickelt, das mittlerweile zu einem erstklassigen Besuchermagneten geworden ist. Dieses Jahr steht in der ersten Maihälfte die Beziehung Bachs zur französischen Musik im Vordergrund.

Auch kulinarisch ist Leipzig auf dem besten Weg, haben doch zwei Musiker des Gewandhausorchesters die "Bachpfeiffen" erfunden. Elf Pralinen in der Form von Orgelpfeifen, gefüllt mit Kaffeecreme in zart schmelzender Kuvertüre. Die Musiker sehen es als "Referenz an den verehrten Meister Bach". Eine Köstlichkeit für Genussbegabte.