Daniel Sturm
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Stühlerücken für den Bus
Kreuzer, Juli 2000

Im Herbst 1999 stifteten die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) einen Bus mit der Revolutionsnummer 89. Friedlich sollte der an den Kanten abgerundete Citibus durch die Nikolaistraße gen Süden schaukeln. Alle sieben Minuten. Doch die LVB hat die Rechnung sprichwörtlich ohne den Wirt gemacht. Denn die Freisitz-Betreiber wollen den Bus jetzt am liebsten aus der Straße mobben, weil er ihnen zu scharf an den Tischen vorbeischrammt. Eine Reportage von Daniel Sturm.

Eine kühle Brise zieht durch die Nikolaistraße und es duftet nach Couscous, der im orientalischen Restaurant Al Salam zubereitet wird. Vom Bistro-Tisch aus betrachtet scheint die Welt ganz in Ordnung, auch wenn sie offenbar über verblüffend viele schwarzgekleidete Passanten mit aschfahlen Gesichtern verfügt, die vom Hauptbahnhof aus zu den verschiedenen Konzerten des Wave Gothic Festivals durch die Straße strömen. Der schmale Bus, für den man einen Bistro-Tisch einige Zentimeter zur Seite schieben muß, fügt sich wie ein Puzzle-Stück ins Bild, hätte man ihn aus dem Augenwinkel heraus glatt für eine mittelalterliche Droschke gehalten, der die schwarzen Passanten wie im Spielfilm "Sleepy Hollow" zum Ziel bringt.

"Wir haben ihn erst gar nicht bemerkt, weil der so leise hinter uns herfuhr", sagt die Studentin Katharina Wirz über den Bus, das unbekannte Wesen. Von der Linie 89 hat sie erst erfahren, als sie für ihn einen Schritt zur Seite machen mußte. Ihr Studienfreund Claudio Marquardt scheint die Aufregung um den lärmreduzierten Bus eher zu amüsieren. In Halle, wo Marquardt studiert, gibt es in der Innenstadt Straßenbahnen, die "absolut keine Rücksicht auf Passanten nehmen". Allenfalls die Bimmel würden sie kurz vor dem Aufprall mit Fußgängern noch gebrauchen.

Kaum zehn Minuten später rollt der nächste 89er Bus an den Freisitzen vorbei. Ein sicheres Anzeichen für das unmittelbar bevorstehende Auftauchen der Linie 89 ist auch das Gesicht von Wilm-Jörn Thust, dem Wirt vom Bistro "Fleurie", das sich im 7-Minuten-Takt zu verdunkeln scheint. "Ich verkaufe kein Essen mehr", sagt der Gastronom und berichtet vom Dieselqualm des 89ers, der den Gästen den Appetit auf seine französische Küche verderbe. Und: "In keiner anderen Fußgängerzone Deutschlands gibt es so etwas." Einmal die Woche tagt der Bürgerstammtisch Mitte an seinen Tischen und berät, wie man den Bus aus der Straße mobben kann. Man habe hier, so Thust recht agitatorisch, "für die Bürger die Initiative" ergriffen. Ziel sei es, die LVB zur Verlegung der Buslinie in die Ritterstraße zu zwingen, zumindest aber den Busverkehr in der Nikolaistraße auf die Wintersaison zu begrenzen. Die Umsätze jedoch, so Thust, seien seit Einführung der Linie nicht zurückgegangen, zumindest könne er das so rechnerisch nicht belegen. Dann schimpft Thust über den Gestank aus der Kanalisation und die Stadt, die längst die versprochenen Bäume zur Verschönerung der Nikolaistraße hätte pflanzen sollen. Man wird den Verdacht nicht los, daß hier die Bürger über Gebühr beansprucht werden - für das übliche Lamentieren der von dauernder Existenzangst geplagten Gastronomen-Seele.

"Die Wirte möchten den Bus, aber nicht durch ihre Straße", konstatiert die LVB-Sprecherin Ulrike Witt trocken. Natürlich gehört dieser Satz zum Repertoire eines Verkehrsunternehmens, wie das Echo auf den immergleichen Sound des Interessenskonflikts mit seinem "Ja, aber"-Muster. "Ich habe nichts gegen die Autobahn, aber nicht vor meiner Haustür." Ulrike Witt hat kaum Verständnis für den späten Protest der Wirte, immerhin sei die Buslinie bereits im Oktober 1999 eingeführt worden. Bei den Kosten für die Poller habe man sich in der Nikolaistraße mit 30.000 DM beteiligt, ein Abzug der 89er-Flottte in die Ritterstraße komme da nicht in Frage, zumal diese eine "nicht sehr belebte Einkaufsstraße" sei. Die superschmalen Midi-Busse (2,65 breit und 9,60 Meter lang) seien eigens für den Innenstadtverkehr ausgerüstet, will heißen: klein, kompakt, abgerundet, schadstoff- und lärmreduziert. Bis Januar 2001 würde die gesamte Busflotte gar mit einer speziellen Filtertechnik ausgestattet, so daß die gesundheitsgefährlichen Stickoxid-Anteile in den Abgasen auf Null reduziert werden könnten. Natürlich sei man bereit, an einer gemeinsamen, außergerichtlichen Lösung zu arbeiten und wolle im Rahmen einer "so genannten Kreativrunde" einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss schmieden.

Der Vorschlag mit der Kreativ-Runde hat Stadtbezirksbeirätin Henrike Dietze, die dem Streit um die Nikolaistraße in der Leipziger Volkszeitung Zunder gegeben hat, sehr gefallen. Allerdings muß man wissen: Dietze ist Ex-Stadträtin und Ex-Chefredakteurin von Leipzig Fernsehen und vielleicht hängt es mit diesen vielen "Ex"-Ämtern zusammen, daß im Gespräch mit der FDP-Frau der Eindruck eines Politik-Spielchens entsteht. Es gibt ja auch den Streit um seiner selbst willen, der sich gerade in stickigen Sommertagen immer wieder Luft macht - eine Art Schattenboxen ohne Schatten.

Der Eindruck erhärtet sich, als Dietze von einer von ihr angestrengten Straßenumfrage berichtet ("Ist der Bus gut oder schlecht?"): darin hätten sich rund die Hälfte aller befragten Haushalte gegen den Bus ausgesprochen.
"Der Fleischer Löblein hat drei Kreuze für ein Nein gemacht", berichtet sie mit nachdrücklichem Unterton, so, als zähle dessen Stimme gleich dreifach.

Entsprechend gelassenen begegnet Andreas Wolf, persönlicher Referent von Stadtplanungs-Chef Engelbert Lüdke-Daldrup der Kritik. "Wir sind da relativ leidenschaftslos", meint er. Die Nikolaistraße sei eben nur die Vorzugsvariante der LVB gewesen, denkbar seien auch die Varianten Ritter- und Katharinenstraße, wobei letztere wegen der Bauarbeiten am Sachsenplatz als Alternativ-Route mittelfristig ausfalle. Außerdem habe sich der Stadtrat für eine "autoarme, aber nicht autofreie" City stark gemacht.

Und Walter Stein, Leiter des Verkehrsplanungsamtes, erklärt, weshalb die LVB die Nikolaistraße den möglichen Parallelstraßen vorgezogen habe. So ist im zehnsilbigen "Verkehrsleistungsfinanzierungsvertrag" festgehalten, daß die LVB von der Stadt Geld in Abhängigkeit von der Streckenauslastung bekommt. "Allein dafür, daß die Busse fahren, gibt es kein Geld." Nun sei die Nikolaistraße nach der Umgestaltung zur verkehrsberuhigten Zone 1999 offenbar auch für die LVB so lukrativ, daß man sich mehr Fahrgäste auf dieser Linienführung verspreche als in der schmucklosen Ritterstraße. Wenn jedoch der Bürgerprotest gegen die Linie 89 eindeutig negativ ausfalle, so Stein, dann müsse die LVB einen Image-Verlust einkalkulieren und sich auch Sorgen um dieses Prinzip der Gewinnmaximierung machen. Schon allein deshalb werde sich das Unternehmen notfalls kompromissfähig zeigen und nicht "den Aufstand nicht proben."

Zurück im "Al Salam", wo ein 89er-Busfahrer sein Gefährt in Präzisionsarbeit an den Bistro-Tischen vorbeischiebt, sind nach einigen Tassen orientalischen Tees und dem üblichen Stühlerücken für den Bus wieder jene good vibrations zu spüren, die das Einkaufen und Flanieren in der Nikolaistraße immer so angenehm machen. Vielleicht ist die Buslinie 89 ja auch nur ein Garant dafür, daß der Straße das Schicksal des Barfußgäßchens erspart bleibt, an dessen Freisitzen sich im Sommer der halbe Muldental-Kreis zu versammeln scheint.

Wollen die Wirte wirklich eine Verlegung des Busses in die Ritterstraße erzwingen, müssen sie sich vorsehen, daß sie die Rechnung nicht ohne die dortigen Wirte machen. Denn damit würde, wie die Anwohnerin Christine Schicke erzählt, der Interessenskonflikt auch nur eine Straße weiter geschoben. Und die Lobby für eine ruhige Ritterstraße sei groß, noch größer aber die für den autoarmen Nikolaikirchhof: "Der muß frei bleiben."

Ob man nun den Revolutionsbus gut findet oder schlecht, ist letztlich egal, sagt Muhammed Taha vom "Al Salam", der mit einem konkreten Vorschlag in dieser Situation fast schon wie die Stimme der Vernunft wirkt: "Vielleicht ist es ja damit getan, zwei der vier Blumenkästen wegzuschaffen, dann hätten die Busse mehr Platz."

Und er sagt noch etwas Wahres: "Am Ende ist der Bus auch nur ein Auto".